Sonntag, 15. Februar 2009

Die offene Wunde

Mediziner unterwegs

C’est comme relire un paragraphe de Kafka, on ne comprend pas pourquoi c’est si extraordinaire, schreibt Jean-Bernard Pouy, in der eher profanen Absicht, die Exzellenz eines bestimmten Weißweins zu kennzeichnen. Lassen wir den Weißwein beiseite: ja, man weiß nicht warum Kafka so außergewöhnlich ist in jedem seiner gelungenen Absätze, aber man zweifelt keinen Augenblick, daß er es ist, die Evidenz ist überwältigend. Mehrfach schon in dieser Sammlung wurde zur schieren Feier der Evidenz der Kahn des Jägers Gracchus zitiert, er sei ein weiteres Mal zitiert: Ein schwerer alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen (Kafka, Tagebücher, 6.4.1917). Keinem Windstoß gewachsen, und er fährt schon seit Jahrhunderten, vielleicht schon viel länger.

Wären von Kafka, ähnlich wie von Heraklit dem Dunklen, nur wenige Zeilen oder Geschichten, sagen wir, neben dem Kahn des Gracchus, Vor dem Gesetz, Das nächste Dorf und Ein Landarzt überliefert, man wüßte, wer das war und wüßte auch, daß seinesgleichen nicht wieder sein wird, besser noch, gleichbedeutend aber in der international gültigen Prägung von Brian Ó Nualláin: Ná beidh a leithéid arís ann. 

Ein Landarzt gehört zu den wenigen seiner Erzählungen, die Kafka selbst als gelungen angesehen hat, und wem sie Kafkas liebste Erzählung überhaupt ist, der muß sich sicher nichts vorwerfen lassen. Gleichwohl ist die Erzählung eher untypisch für den Dichter aufgrund ihres hohen Tempos, das vom ersten bis zum letzten Satz dem Takt und Rhythmus galoppierender Pferde unterworfen ist, während sonst eigentlich immer die retardierenden Merkmale den Ton bestimmen bis hin zur Empfehlung, Abstand zu nehmen von allen Bewegungen nennenswerter Art: Ich begreife kaum, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß - von ungücklichen Zufällen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht ausreicht. Dieses besondere Charakteristikum des Landarztes scheint es vollends zu verbieten, Sebalds Landärzte in Il Ritorno in Patria in irgendeinen Bezug zu Kafkas Landarzt zu bringen. Zum einen aber lassen sich die Schwindel.Gefühle insgesamt lesen als eine Stilübung mit der Absicht, Kafka die Reverenz zu erweisen, ohne selbst kafkaesk zu werden, und zum anderen ist es Sebalds Landarzt Dr. Piazolo, dem gelingt, was zuvor niemandem gelungen war, nämlich dem Jäger Gracchus den Totenschein auszustellen. Sebalds Jäger nennt sich zwar Hans Schlag, ist aber bei der Autopsie vermittels der am Arm eintätowierten Barke leicht und zweifelsfrei als Gracchus zu identifizieren. Der Jäger Gracchus, der ähnlich dem kranken Knaben im Landarzt im Grenzstreifen von Leben und Tod existiert und das schon seit einigen hundert Jahren.

Sebald hat den Jäger Gracchus deutlich entmythologisiert, entkafkaesziert, so ist er mit einem Dackel namens Waldmann versehen, und noch nach seinem Tode spielt die Taschenuhr Üb’ immer Treu und Redlichkeit. Das wirft immerhin die Frage auf, ob nicht ähnliche Camouflagen und Nebelkerzen die Verwandtschaft wenn nicht Identität der Landärzte verbergen.

Zur Erleichterung seiner Aufgabe hat sich Sebalds Landarzt verdoppelt in den Dr. Rambousek und den Dr. Piazolo. Schon Kafkas Landarzt hat zwei Seelen in der einen Brust, die eine, die bleiben will, um Rosa vor dem Knecht zu schützen und die andere, die es wegzieht zu dem zehn Meilen entfernten Kranken. Dr. Rambousek ist bei Sebald der am Ort bleibende. Er ist aus Mähren zugewandert und zählt, wie Kafka, zu den von Haus aus Untröstlichen. Dr. Rambousek hat wenig Gelegenheit, dem Fehlläuten der Nacht- oder auch nur Tagglocke zu folgen, da die Glocke kaum betätigt wird, nicht Fehlläuten, sondern fehlendes Läuten ist sein Leid. Er ist anscheinend nie unterwegs, es ist mir nicht erinnerlich, ihn jemals auf der Gasse gesehen zu haben, obwohl er nicht in der Alpenrose, sondern im Lehrerhaus wohnte, und also zwischen dem Lehrerhaus und der Alpenrose beziehungsweise zwischen der Alpenrose und dem Lehrerhaus doch gelegentlich unterwegs sein mußte (SG 250 f). Als Telemach-Selysses sich entschließt, ihn auf die offene und immer größer werdende Brandwunde des alten Engelwirts anzusprechen – eine Wunde wohl nicht unähnlich der des kranken Jungen im Landarzt, auch wenn von Würmern, an Stärke und Länge einem kleinen Finger gleich, nicht die Rede ist -, findet er ihn tot vor in seinem Ordinationszimmer; das Fehlläuten kommt zu spät und verbessert die Lage nicht.

Dr. Piazolo ist Rambouseks vollendetes Gegenteil, entlastet von allen Zweifeln und Schwankungen, grundverschieden damit auch von Kafkas Landarzt, robust, solide, immer auf Achse, er hatte offenbar den Vorsatz gefaßt, im Sattel zu sterben. Gemeint ist nicht ein Pferdesattel, sondern der einer siebenhundertfünfziger Zündapp, eine alte Fliegerhaube mit Ohrenklappen, eine ungeheuere Motorradbrille, eine lederne Montur und Gamaschen (SG 251), man kommt nicht umhin, an bestimmte Spätwestern zu denken, etwa an Sergio Leones Once Upon a Time… the Revolution, in denen die Sattelhelden auf Probe auch bereits auf das neuzeitliche Beförderungsmittel umgestiegen sind. Sebald hat sich damit der kafkaesken Pferde entledigt, des Schwalls der zumeist psychoanalytischen Deutungen, der von ihnen ausgeht, und des Tempos, das sie diktieren.

Den alten Glauben haben sie verloren, der Pfarrer sitzt zu Hause und zerzupft die Meßgewänder, eines nach dem anderen – so bei Kafka, aber nicht so bei Sebald: Dr. Piazolo hatte noch einen Doppelgänger oder Schattenreiter in dem gleichfalls nicht mehr zu den Jüngsten zählenden Pfarrer Wurmser, der seine Versehgänge auch die längste Zeit mit dem Motorrad machte – hollah, Bruder, hollah, Schwester, rief der Kradmechaniker. Beim Adlerwirt vertauschen Arzt und Pfarrer ihre ähnlich aussehenden Rucksäcke, so daß der Dr. Piazolo mit dem Versehgerät zu seinem nächsten Patienten und der Pfarrer Wurmser mit dem Arztwerkzeug zum nächsten im Erlöschen liegenden Mitglied seiner Gemeinde gekommen sein soll. Über gravierende geistliche oder medizinische Konsequenzen wird nichts berichtet, so wie ja die Schwindel.Gefühle überhaupt desto lustiger werden, je öfter man sie liest.

Der Erzähler, Selysses, klassifiziert die Schwindel.Gefühle als Kriminalroman und gleichzeitig äußert er sich zum Tode, dem ursprünglichen Tode des Gracchus so: Von ihm, dem Jäger, wird erzählt, daß er beim Verfolgen einer Gemse – und ist das nicht eine der eigenartigsten Falschmeldungen aller Erzählungen, die je erzählt worden sind? aus einer Felswand zu Tode gestürzt ist. Der Kriminalist zweifelt also offenbar an dieser Version und beraumt einen aus dem Schwarzwald in das Grenzgebiet von Allgäu und Tirol verlegten Lokaltermin an. Die Ausgangsituation wird nachgestellt, zunächst der Liebeshandel mit der Romana und dann heißt es wieder nur, der Gracchus-Schlag sei beim Überqueren des Tobels von der sogar im Sommer gefahrvollen, im Winter so gut wie ungangbaren Riese zu Tode gestürzt. Und wieder stellt sich keine Klarheit ein: es bleibe eine undurchsichtige, nicht recht geheure Geschichte (SG 268 f). Vieles spricht für ein Verbrechen, immerhin hat der einbeinige Engelwirt Sallaba nach dem Vorkommnis zwischen Schlag und Romana die gesamte Einrichtung der Gaststube zerstört, überall auf dem Boden lag knöcheltief zerbrochenes Glas (SG 261). Unwahrscheinlich aber, daß der Einbeinige dem Schlag in den Tobel folgen konnte, um ihn dort umzubringen, aber wie oft nicht gibt es in Kriminalromanen eine Erklärung für das scheinbar gänzlich Undenkbare. Oder fällt der Verdacht auf Telemach-Selysses, der ja in die Romana nicht weniger verliebt war? Wahrscheinlicher noch, daß erst der erwachsene Dichter den Gracchus literarisch zum Tode erlöst hat. War Gracchus die offene Wunde der Menschheit, die bislang ihren Tod verhindert hat? Wirst du mich retten, flüstert schluchzend der Junge bei Kafka, ganz geblendet von dem Leben in seiner Wunde. Haben wir es mit einer Verschiebung der christlichen Symbolik zu tun, nicht Tod und Auferstehung, sondern, weniger anspruchsvoll, heidnisch, andauernde Schattenfahrt im Grenzstreifen von Tod und Leben? Braucht Sebald den Tod des Gracchus, um Weltentod und Erlösung auf das Jahr Dreizehn im dritten Jahrtausend nach Christi Geburt festzusetzen?

Und andererseits, soll Sebalds seelisch und körperlich vielleicht robusteste Gestalt überhaupt, der Dr. Piazolo, wirklich im Stande sein, dem von jahrhundertealten Geheimnissen umwitterten Gracchus den Totenschein auszustellen? Man mag sagen, wenn einer, dann er, ebenso gut aber auch, der auf keinen Fall. Hätte die zweite Partei recht, so wäre der Tod des Gracchus als Hans Schlag nur eine weitere Form seines Nichtsterbenkönnens und nicht auszuschließen wäre, daß Gracchus den Kahn vom Arm nimmt, ihn wieder flott und zu Wasser bekommt, denn schweren alter Kahn, verhältnismäßig niedrig und sehr ausgebaucht, verunreinigt, wie mit Schwarzwasser ganz und gar übergossen, noch troff es scheinbar die gelbliche Außenwand hinab, die Masten unverständlich hoch, der Hauptmast im obern Drittel geknickt, faltige, rauhe, gelbbraune Segeltücher zwischen den Hölzern kreuz und quer gezogen, Flickarbeit, keinem Windstoß gewachsen – das Schiff unseres Lebens, das im Grenzstreifen des Todes dahintreibt, das Schiff, das die Menschheit durch die Zeiten und Gezeiten trägt.

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