Stufen der Zivilisierung
Nichts sticht in McGinleys Erinnerungen an seine Kindheit in Donegal stärker hervor als der Umstand, daß es keinerlei organized entertainment gab, ein Umstand, der als bloße Vorstellung die meisten Zeitgenossen, wenn sie ihn sich recht vor Augen führen, mit Grauen erfüllt, anderen aber geht das Herz auf. Marcello Mastroianni, in Antonionis La notte, mit Jeanne Moreau als Gefährtin in einer Nachtbar, merkt an, das Leben wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man sich nicht unterhalten müßte. Andere noch könnten angeführt werden, beschränken wir uns aber auf den oft unter Schwindelgefühlen leidenden Dichter. Einmal erleben wir, wie er fast eine größere Kulturveranstaltung besucht hätte, die Aufführung der Oper Nabucco in Bregenz, im letzten Augenblick aber verschenkt er sein Billett, und noch Jahre später reut es ihn, überhaupt hingefahren zu sein. In Berlin, nicht weit vom Schlesischen Tor, war er später dann nach einigem Herumgehen in der trostlosen Gegend auf ein kleines Häufchen von Menschen gestoßen, das vor einer Art Droschkenschuppen darauf wartete, eingelassen zu werden zur Aufführung eines Dramenfragments von Jakob Michael Lenz. Alles wirkt zufällig, unorganisiert. Drinnen im dämmrigen Raum nahm man auf niedrigen Holzstühlchen Platz, wodurch man gleich in eine kindliche, das Wunderbare herbeisehnende Verfassung kam. Offensichtlich orientiert der Kanon zulässiger Unterhaltungen sich am Maßstab der von Austerlitz entworfenen Liste zulässiger Architektur, die nur Bauten unter dem Normalmaß des Domestischen erfaßt, die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen. Die Bebauung an der irischen Westküste in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hätte ohne Schwierigkeiten und größere Prüfung Zugang zur Liste gefunden.
In Donegal gesellte sich zum fehlenden Entertainment das Moment fast völliger Seßhaftigkeit. Unter diesen Bedingungen konnten sich die Gespräche im Pub oder Teach tábhairne, die, man muß es einräumen, den Männern vorbehalten waren, unter der Regie eines begnadeten Wirts zu einer wahren Kunstform entwickeln und kulturelle Bedürfnisse jeglicher Art zufriedenstellen. Das Merkmal der Seßhaftigkeit kann beim Dichter, anders als bei manchen, die er auf seinen Wanderungen und Reisen besucht, nicht beobachtet werden kann. Seine Kindheit und Jugend aber in W., tausend Meilen südlich der Grafschaft Donegal, verlief auf einer nur um eine Stufe höheren Ebene der sogenannten Zivilisierung, mit dem Ergebnis, daß von einer Pubkultur nicht die Rede sein konnte, der Engelwirt war vielmehr ein übel beleumundetes Wirtshaus, in dem die Bauern bis in die Nacht hinein hockten und oft bis zur Bewußtlosigkeit tranken. Ausgleichendes Merkmal der höheren Zivilisierung waren die allfälligen Filmvorführungen und Theaterinszenierungen im großen Saal des Engelwirts. Hinzu kamen volkstümliche Vergnügungen, Lukas Seelos erinnert sich, jahrelang den Fastnachtskasper gegeben zu habenweil nirgends ein Nachfolger aufzutreiben war, der ihm das Wasser hätte reichen können. Der Dichter hat gegen diese bairischen Vergnügungen nichts einzuwenden, hätte sich aber wohl auch mit der niedrigeren Kulturstufe in Donegal abfinden können. Ob er, herangewachsen, die kunstvollen Debatten an der Theke wirkungsvoll hätte beleben können, diese Frage muß unbeantwortet bleiben.
Nichts sticht in McGinleys Erinnerungen an seine Kindheit in Donegal stärker hervor als der Umstand, daß es keinerlei organized entertainment gab, ein Umstand, der als bloße Vorstellung die meisten Zeitgenossen, wenn sie ihn sich recht vor Augen führen, mit Grauen erfüllt, anderen aber geht das Herz auf. Marcello Mastroianni, in Antonionis La notte, mit Jeanne Moreau als Gefährtin in einer Nachtbar, merkt an, das Leben wäre vielleicht gar nicht so schlecht, wenn man sich nicht unterhalten müßte. Andere noch könnten angeführt werden, beschränken wir uns aber auf den oft unter Schwindelgefühlen leidenden Dichter. Einmal erleben wir, wie er fast eine größere Kulturveranstaltung besucht hätte, die Aufführung der Oper Nabucco in Bregenz, im letzten Augenblick aber verschenkt er sein Billett, und noch Jahre später reut es ihn, überhaupt hingefahren zu sein. In Berlin, nicht weit vom Schlesischen Tor, war er später dann nach einigem Herumgehen in der trostlosen Gegend auf ein kleines Häufchen von Menschen gestoßen, das vor einer Art Droschkenschuppen darauf wartete, eingelassen zu werden zur Aufführung eines Dramenfragments von Jakob Michael Lenz. Alles wirkt zufällig, unorganisiert. Drinnen im dämmrigen Raum nahm man auf niedrigen Holzstühlchen Platz, wodurch man gleich in eine kindliche, das Wunderbare herbeisehnende Verfassung kam. Offensichtlich orientiert der Kanon zulässiger Unterhaltungen sich am Maßstab der von Austerlitz entworfenen Liste zulässiger Architektur, die nur Bauten unter dem Normalmaß des Domestischen erfaßt, die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen. Die Bebauung an der irischen Westküste in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts hätte ohne Schwierigkeiten und größere Prüfung Zugang zur Liste gefunden.
In Donegal gesellte sich zum fehlenden Entertainment das Moment fast völliger Seßhaftigkeit. Unter diesen Bedingungen konnten sich die Gespräche im Pub oder Teach tábhairne, die, man muß es einräumen, den Männern vorbehalten waren, unter der Regie eines begnadeten Wirts zu einer wahren Kunstform entwickeln und kulturelle Bedürfnisse jeglicher Art zufriedenstellen. Das Merkmal der Seßhaftigkeit kann beim Dichter, anders als bei manchen, die er auf seinen Wanderungen und Reisen besucht, nicht beobachtet werden kann. Seine Kindheit und Jugend aber in W., tausend Meilen südlich der Grafschaft Donegal, verlief auf einer nur um eine Stufe höheren Ebene der sogenannten Zivilisierung, mit dem Ergebnis, daß von einer Pubkultur nicht die Rede sein konnte, der Engelwirt war vielmehr ein übel beleumundetes Wirtshaus, in dem die Bauern bis in die Nacht hinein hockten und oft bis zur Bewußtlosigkeit tranken. Ausgleichendes Merkmal der höheren Zivilisierung waren die allfälligen Filmvorführungen und Theaterinszenierungen im großen Saal des Engelwirts. Hinzu kamen volkstümliche Vergnügungen, Lukas Seelos erinnert sich, jahrelang den Fastnachtskasper gegeben zu habenweil nirgends ein Nachfolger aufzutreiben war, der ihm das Wasser hätte reichen können. Der Dichter hat gegen diese bairischen Vergnügungen nichts einzuwenden, hätte sich aber wohl auch mit der niedrigeren Kulturstufe in Donegal abfinden können. Ob er, herangewachsen, die kunstvollen Debatten an der Theke wirkungsvoll hätte beleben können, diese Frage muß unbeantwortet bleiben.
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