Dienstag, 7. November 2017

Reue

Langlebig

Non, je ne regrette rien, c'est payé, balayé, oublié &c. Auf der anderen Seite: Quoique l’homme entreprenne, il le regrettera tôt ou tard. Ciorans Mutter, die, wie er berichtet, diesen dunklen Spruch gern aufsagte, hatte nicht die stimmliche Überzeugungskraft der Piaf, aber gerade darum fühlen wir uns plötzlich zu ihr hingezogen. Die wortlose Gestalt der Mathild Seelos taucht auf vor unserem Auge. Die Mathild hat immer irgendetwas studiert und daher im Dorf als überspannte Person gegolten. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Es wäre nicht verwunderlich, wenn sie in dieser Phase ihres Lebens, sich dem Diktum der Elvira Cioran fügend, zumindest einige ihrer bisherigen Entscheidungen und Unternehmungen bereut hätte, handfeste Hinweise darauf fehlen aber, das Gefühlsleben der Mathild eröffnet sich nicht. Die Dorfbewohner haben sich über die Mathild dahingehend ausgelassen, daß sie aus dem Kloster und aus dem kommunistischen München völlig hinterfür heimgekommen sei, und sie hinter ihrem Rücken eine rote Betschwester geheißen. Die Mathild ihrerseits hat sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Wenn die Mathild jemals Umstände ihres Lebens bereut haben sollte, so hat sie das abgestreift, als sie, wie es heißt, ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Die geradezu trotzige Langlebigkeit zumal klingt, obwohl naturgemäß lautlos, wie die Stimme der Piaf.

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