Endogenes Nocturama
In die französische Literatur sei neuer Schwung gekommen, heißt es in einem Zeitungsartikel zur Frankfurter Buchmesse, die Autorinnen und Autoren kämen nunmehr ohne Umschweife und schnörkellos zur Sache, u.a. eine Literatin namens Despentes dient als Beleg, Baise-moi ihr bekanntester Titel. Der Dichter verfehlt den kurzangebundenen Stil gänzlich, daß er kein Franzose ist, taugt nicht als Entschuldigung, helfen wir ihm so gut es geht auf die Sprünge.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich zu Studienzwecken von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. Bei einer dieser Reisen habe ich im Bahnhof Antwerpen Austerlitz zum ersten Mal getroffen: So ähnlich könnte in einer ökonomischen, auf Handlungsfortschritt bedachten Erzählweise die Eingangspassage von Austerlitz lauten. Nicht nur, daß der Dichter zu den Studienzwecken noch andere, ihm selber nicht recht erfindliche Gründe hinzufügt, die ebensowenig aufgeklärt wie die Studienzwecke erläutert werden, er führt uns zunächst ausführlich ins Nocturama. In Erinnerung geblieben ist ihn, daß etliche von den dort behausten Tieren auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Wie das Nocturama, so der Wartesaal, versuche ich diesen Wartesaal heute mir vorzustellen, sehe ich sogleich das Nocturama, und denke ich an das Nocturama, dann kommt mir der Wartesaal in den Sinn. Nocturama und Wartesaal sind eins, damit ist auch Austerlitz ein weiterer Bewohner des Nocturamas, oder der, der am Ausgang des Nocturamas wartet.
In die französische Literatur sei neuer Schwung gekommen, heißt es in einem Zeitungsartikel zur Frankfurter Buchmesse, die Autorinnen und Autoren kämen nunmehr ohne Umschweife und schnörkellos zur Sache, u.a. eine Literatin namens Despentes dient als Beleg, Baise-moi ihr bekanntester Titel. Der Dichter verfehlt den kurzangebundenen Stil gänzlich, daß er kein Franzose ist, taugt nicht als Entschuldigung, helfen wir ihm so gut es geht auf die Sprünge.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bin ich zu Studienzwecken von England aus wiederholt nach Belgien gefahren. Bei einer dieser Reisen habe ich im Bahnhof Antwerpen Austerlitz zum ersten Mal getroffen: So ähnlich könnte in einer ökonomischen, auf Handlungsfortschritt bedachten Erzählweise die Eingangspassage von Austerlitz lauten. Nicht nur, daß der Dichter zu den Studienzwecken noch andere, ihm selber nicht recht erfindliche Gründe hinzufügt, die ebensowenig aufgeklärt wie die Studienzwecke erläutert werden, er führt uns zunächst ausführlich ins Nocturama. In Erinnerung geblieben ist ihn, daß etliche von den dort behausten Tieren auffallend große Augen hatten und jenen unverwandt forschenden Blick, wie man ihn findet bei bestimmten Malern und Philosophen, die vermittels der reinen Anschauung und des reinen Denkens versuchen, das Dunkel zu durchdringen, das uns umgibt. Wie das Nocturama, so der Wartesaal, versuche ich diesen Wartesaal heute mir vorzustellen, sehe ich sogleich das Nocturama, und denke ich an das Nocturama, dann kommt mir der Wartesaal in den Sinn. Nocturama und Wartesaal sind eins, damit ist auch Austerlitz ein weiterer Bewohner des Nocturamas, oder der, der am Ausgang des Nocturamas wartet.
In der Folge trifft der Erzähler bis in die siebziger Jahre hinein wiederholt mit Austerlitz zusammen, teils zufällig, teils verabredet, um ihn dann für zwanzig Jahre aus dem Auge zu verlieren, bevor er ihn durch eine, wie es heißt, eigenartige Verkettung von Umständen erneut trifft. Auch hier kann eine zielstrebige Kurzfassung der tatsächlich sich über sechs Seiten erstreckenden Erzählpassage ersetzen: Nicht wenig beunruhigt vom plötzlichen fast völligen Schwund der Sehkraft des rechten Auges fuhr ich an einem der folgenden Tage zur augenärztlichen Untersuchung nach London. Die Diagnose war eine wahre Erlösung, nur ein zeitweiliger, selbstheilender Defekt, Chorioretinopathie in der Fachsprache. Um die Zeit bis zur Rückfahrt zu überbrücken, suchte ich für einen Kaffee die Salon Bar des Great Eastern Hotel auf. Zu meinem nicht geringen Erstaunen saß Austerlitz an einem der Tische.
Das Buch, den Reiz der knappen Fassung mißachtend, berichtet zunächst umfänglich von den Symptomen der aufgetretenen Augenerkrankung des Erzählers. Sozusagen über Nacht war die Sehkraft des rechten Auges fast gänzlich geschwunden. Es war ihm, als müsse er sein Augenmerk nur ins Abseits lenken - der Lehrer Hilary hatte in allgemeiner Weise vermutet, daß die Wahrheit in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt – um die vermutlich hysterisch bedingte Sehschwäche zum Verschwinden zu bringen. Das bewahrheitet sich nicht. Eine Vision der Erlösung erfüllt ihn, in der er im Garten sitzt, befreit vom Lesen- und Schreibenmüssen, umgeben von einer konturlosen, nur an ihren schwachen Farben noch zu erkennenden Welt, ein endogenes Nocturama gleichsam. Bereyter hatte in ähnlicher Lage von einem grauen Prospekt gesprochen. Während der Bahnfahrt nach London scheint die Augenmisere vergessen, im Wartezimmer erinnern ihn einige vor dem Fenster vorbeischwebende Schneeflocken an den Kindheitswunsch, alles möge zuschneien, das ganze Dorf und das Tal bis in die obersten Höhen hinauf. Die günstige Diagnose, Chorioretinopathie, ruft keine erkennbare Euphorie hervor. Eher begeistern ihn bei der anschließenden Untersuchung des Augenhintergrunds die kleinen Lichtpunkte, die bei jedem Druck auf den Auslöser des Untersuchungsgerätes in seinen weit aufgerissenen Augen zersprangen, so als seien die Augen Teil einer optischen Anlage geworden; man denkt an Austerlitz‘ photographische Unternehmungen. Unversehens und ohne Überleitung oder Begründung sitzt der Erzähler eine halbe Stunde später in der Bar des Great Eastern Hotels, die ganze ophthalmologische Pathogenese ist damit unter dem Gesichtspunkt des erzählerischen Handlungsziels, nämlich Austerlitz zu treffen, überflüssig. Von daher ließe sich das Geschehen noch kürzer fassen: Als ich wieder einmal in London war, suchte ich aus mir selbst nicht recht erfindlichen Gründen die Bar des Great Eastern Hotel auf. Zu meinem nicht geringen Erstaunen saß Austerlitz an einem der Tische.
Können wir das Erstaunen auch noch streichen? Der Erzähler gibt kein Erstaunen zu erkennen, und Austerlitz ist offenbar nicht im geringsten erstaunt, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über das nach solch langer Zeit rein zufällig erfolgte Zusammentreffen, nimmt er das Gespräch mehr oder weniger dort wieder auf, wo es einst abgebrochen war. Auch der vom Erzähler ins Feld geführten Verkettung von Umständen müssen wir kritisch gegenüberstehen. Abgesehen davon, daß er, diesmal aus einem erfindlichen Grund, den Zug besteigt, gibt es eigentlich keine Verkettung von Umständen, die Versuche der Selbsttherapie, das Gefühl der Erlösung, der Schnee im Alpental sind keine Kettenglieder, die zu Austerlitz führen, wir können zur Freude der zahlreichen Anhänger eines schnörkellosen Stils noch weiter kürzen: Wieder einmal in London, suchte ich die Bar des Great Eastern Hotel auf und sah Austerlitz an einem der Tische sitzen.
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Es ist Zeit, sich zu besinnen und Mme Despentes nicht kampflos das Feld zu überlassen. Die Streichungen haben nicht das Überflüssige entfernt, sondern das Eigentliche, das Eigenleben der Motive. Wenn man aus dem Dunkel des Nocturamas tritt, begegnet man Austerlitz, ist eine auf dieser Ebene abzuleitende Aussage, keine Aussage im Sinn einer Aussagenlogik naturgemäß, und über ihre Bedeutung kann aber muß man nicht nachsinnen. Resonanzen von Erlösung, Abseits, Lichtpunkten wurden schon erwähnt. Den Text beherrscht eine Ordnung, die am besten mit halbgeschlossenen Augen wahrzunehmen ist. Der Zufall ist in einer solchen Ordnung um seine Zufälligkeit gebracht.
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