In einem Boot
Cioran schreibt: Der im MAN
einbegriffene Plural und der offen eingestandene Plural des WIR bilden den
bequemen Zufluchtsort allen unwahren Daseins und, könnte man hinzufügen, das Quellgebiet
aller rechten und linken Faschismen, Rassismen und Klassismen. Das WIR, und nicht anders das MAN, ist kaum je zielgenau, es vereinnahmt über Gebühr und schließt
andererseits willkürlich aus. Cioran fährt fort: Der Dichter allein
verantwortet das ICH. Sebalds immer alleinreisender, niemals in einem WIR
aufgehender Erzähler erfüllt dieses Postulat aufs beste, das Wort, die Vokabel
WIR kann gleichwohl in einem längeren Prosatext ohne Künstelei nicht vermieden
werden, das zeigt sich besonders deutlich bei Bootsfahrten.
Das Boot hob sich mit dem Bug aus dem Wasser, und in einem großen Bogen
fuhren WIR in den Canale della Giudecca hinein. Das Boot hat Malachio und
den Erzähler für eine gewisse Zeit vereinnahmt, dann wird man wieder
auseinandergehen, ci vediamo a Gerusalemme. Auch die übertragene Rede vom
Sitzen in einem Boot meint eine Notgemeinschaft auf Zeit, die sich sogleich
trennt nach dem gelungenen Anlegen. Andererseits hört man in neuerer Zeit
vermehrt, wir säßen allesamt in einem einzigen Boot und könnten es nie wieder verlassen,
eine grauenhafte Vorstellung und für eingefleischte Landratten auf keine Weise akzeptabel. Vor uns lag der verglimmende
Glanz unserer Welt, an dem WIR, wie an einer Himmelsstadt, uns nicht sattsehen
können: das Verb in der Präsenzform zeigt an, es ist ein offenes Wir, wer die Empfindung kennt und teilt, ist angesprochen,
ein jeder aber kann sich verweigern, ihm droht kein Unheil.
Die beiden Segel waren im Westwind gebläht, und WIR setzten den Kurs
so, daß unser Boot die Gezeitenströmung durchschnitt: der Eingangssatz der
Erzählung Scomber scombrus ist im
Rahmen des Prosawerks geradezu unerhört, der Erzähler ist als Teil eines eine
ungenannte Zahl von Personen umfassenden WIR unterwegs auf einem Segeltörn, wir
sehen hinter unseren gschlossenen Augen ein Dutzend wind- und wettergegerbter Frauen und Männer an Deck. Wenn der
Westwind nur zwei Segel bläht, scheint das auf ein kleineres Boot zu verweisen,
aber wer sagt, daß nicht aus dem einen oder anderen Grund nur zwei Segel eines
umfänglichen Segelwerks gesetzt wurden. Am Ende der Erzählung sehen wir den
Erzähler allein mit seiner Begleiterin, aber da ist man bereits wieder an Land,
die Crew mag sich für einige Zeit getrennt haben und in kleineren Gruppen unterschiedlichen
Beschäftigungen nachgehen, bevor man wieder zum gemeinsamen Abendbrot
an Bord zusammentrifft. Kann das überhaupt der Erzähler sein, an den wir gewohnt sind? Wenn er
es ist, so in einer bislang nicht beleuchteten Phase seines Lebens, als
gemeinschaftsfroh, segeltauglich und dem Fischfang zugetan wurde er uns bislang
nicht vorgestellt. Je est un autre.
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