Verwehtes Parfum
Prousts Kathedrale der verlorenen Zeit betreten wir durch das Portal des Kinderzimmers, wo, bereits im Bett liegend, der kleine Marcel den Gutenachtkuß der Mutter herbeisehnt. Ähnliches kann oder will Sebalds Erzähler nicht berichten. Von der elterlichen Wohnung lernen wir nur die Wohnstube kennen, die allerdings in aller Ausführlichkeit, keinen Einblick haben wir in die Küche oder das Eßzimmer geschweige denn in die Kinderzimmer, falls es so etwas gab, nicht jeder Heranwachsende hatte in diesen Jahren a room of his own. Generell werden uns von einem Kind bewohnte aktuell Kinderzimmer im Prosawerk vorenthalten. Wir sehen kleinen Paul B. auf seinem Dreirädchen selig im Emporium radeln, aber auch bei einer großzügigen Streckung des Begriffes ist ein Emporium kein Kinderzimmer. Ein wenig anders sieht es aus im Fall der Mme Landau. Der verwitwete Vater hatte eine kleine Villa am Seeufer gekauft und dabei fast sein gesamtes Vermögen veräußert, so daß er mit seiner Tochter für Jahre in dem so gut wie unmöblierten Haus hatte wohnen müssen. Dem Mädchen aber war das Wohnen in den leeren Zimmern nicht als ein Mangel, sondern vielmehr durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung und Vergünstigung erschienen, die Villa eine Art Villa Kunterbunt oder besser Lichterhell, das ganze Haus ein Kinderzimmer. Das Kinderzimmer wächst gar noch über das Haus hinaus. Das leere Haus mit den weit offenen Fenstern war die Kulisse zu einem Zauberspiel, und als dann den See entlang bis nach bis nach St. Aubin und weiter hinauf ein Feuer ums andere aufzuleuchten begann, da war sie vollends überzeugt gewesen, daß dies alles nur ihretwegen, zu Ehren ihres Geburtstags geschah. Das Kinderzimmer wächst bis zu Horizont und darüber hinaus.
Die Erinnerung an das Kinderzimmer ist eins, es nach langer Zeit der Abwesenheit als Erwachsener wieder zu betreten ein anderes. Als er zum erstenmal seit zehn Jahren das Kinderzimmer wieder betrat, sagte Ashman, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre um seinen Verstand gekommen, es sei ihm gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit. Eine Wut sei in ihm aufgestiegen, und ehe er noch wußte, was er tat, habe er draußen auf dem Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Zifferblatt des Uhrtürmchens geschossen: ein naturgemäß nicht siegreicher Versuch der Rache an der Zeit und dem Verlust des Paradieses. Was den Cosmo Salomon anbelangt, so war er nach dem Ausbruch seiner zweiten schweren Nervenkrise eines Tages verschwunden gewesen. Nach zwei, drei Tagen hat man ihn endlich im obersten Stock des Hauses in einem seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer entdeckt. Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer. Er habe nach seinem Bruder schauen wollen, antwortete er auf die Frage, zu welchem Zweck er hier heraufgegangen sei; einen solchen Bruder aber hatte es nie gegeben. Der Versuch der Rückkehr scheitert auf der ganzen Linie, bald schon wird er in die Nervenklinik Samaria in Ithaca eingeliefert, wo er innerhalb desselben Jahres, stumm und unbeweglich, wie er war, verdämmerte.
Unter den Füßen waren die unebenen Pflastersteine zu spüren, sie führen nicht zum Palais der Guermantes, sondern zur Šporkova Nr. 12, zu Veras Wohnung, die gleichzeitig Jacquots Kinderzimmer war, sie führen zum Gutenachtkuß der Mutter. Weit jenseits seiner Schlafenszeit, die Augen weit offen, hatte er auf dem Diwan zu Veras Bett gelegen, bis Agata nach Hause kam, bis er den Wagen, der sie aus der anderen Welt zurückbrachte, anhalten hörte, bis sie endlich ins Zimmer trat und sich zu ihm niedersetzte, umhüllt von einem seltsamen, aus verwehtem Parfum und Staub gemischten Theatergeruch.
Es scheint, als habe Mme Landau aus der lichthellen Weite der Kindervilla heraus ihr Leben bruchlos und ohne unübliche Mühen fortsetzen können. Ashman und Cosmo Solomon können wir zurückbegleiten in ihre Kinderzimmer, in ihre Kindheit aber haben wir keinen Einblick. Austerlitz‘ Kindheit wird mit der Verschickung nach Wales jäh unterbrochen und bleibt für Jahre auch seiner eigenen Erinnerung verschlossen. Gleichzeitig aber bleibt sie versiegelt und unbeschädigt, als er den unebenen Steinen folgt, öffnet sie sich ihm in der Šporkova Nr. 12 als das verlorene Paradies.
Prousts Kathedrale der verlorenen Zeit betreten wir durch das Portal des Kinderzimmers, wo, bereits im Bett liegend, der kleine Marcel den Gutenachtkuß der Mutter herbeisehnt. Ähnliches kann oder will Sebalds Erzähler nicht berichten. Von der elterlichen Wohnung lernen wir nur die Wohnstube kennen, die allerdings in aller Ausführlichkeit, keinen Einblick haben wir in die Küche oder das Eßzimmer geschweige denn in die Kinderzimmer, falls es so etwas gab, nicht jeder Heranwachsende hatte in diesen Jahren a room of his own. Generell werden uns von einem Kind bewohnte aktuell Kinderzimmer im Prosawerk vorenthalten. Wir sehen kleinen Paul B. auf seinem Dreirädchen selig im Emporium radeln, aber auch bei einer großzügigen Streckung des Begriffes ist ein Emporium kein Kinderzimmer. Ein wenig anders sieht es aus im Fall der Mme Landau. Der verwitwete Vater hatte eine kleine Villa am Seeufer gekauft und dabei fast sein gesamtes Vermögen veräußert, so daß er mit seiner Tochter für Jahre in dem so gut wie unmöblierten Haus hatte wohnen müssen. Dem Mädchen aber war das Wohnen in den leeren Zimmern nicht als ein Mangel, sondern vielmehr durch eine glückliche Entwicklung der Dinge ihr zugefallene Auszeichnung und Vergünstigung erschienen, die Villa eine Art Villa Kunterbunt oder besser Lichterhell, das ganze Haus ein Kinderzimmer. Das Kinderzimmer wächst gar noch über das Haus hinaus. Das leere Haus mit den weit offenen Fenstern war die Kulisse zu einem Zauberspiel, und als dann den See entlang bis nach bis nach St. Aubin und weiter hinauf ein Feuer ums andere aufzuleuchten begann, da war sie vollends überzeugt gewesen, daß dies alles nur ihretwegen, zu Ehren ihres Geburtstags geschah. Das Kinderzimmer wächst bis zu Horizont und darüber hinaus.
Die Erinnerung an das Kinderzimmer ist eins, es nach langer Zeit der Abwesenheit als Erwachsener wieder zu betreten ein anderes. Als er zum erstenmal seit zehn Jahren das Kinderzimmer wieder betrat, sagte Ashman, hätte nicht viel gefehlt, und er wäre um seinen Verstand gekommen, es sei ihm gewesen, als öffne sich vor ihm der Abgrund der Zeit. Eine Wut sei in ihm aufgestiegen, und ehe er noch wußte, was er tat, habe er draußen auf dem Hof gestanden und mehrmals mit seiner Flinte auf das Zifferblatt des Uhrtürmchens geschossen: ein naturgemäß nicht siegreicher Versuch der Rache an der Zeit und dem Verlust des Paradieses. Was den Cosmo Salomon anbelangt, so war er nach dem Ausbruch seiner zweiten schweren Nervenkrise eines Tages verschwunden gewesen. Nach zwei, drei Tagen hat man ihn endlich im obersten Stock des Hauses in einem seit vielen Jahren versperrten Kinderzimmer entdeckt. Mit bewegungslos herabhängenden Armen stand er auf einem Schemelchen und starrte hinaus auf das Meer. Er habe nach seinem Bruder schauen wollen, antwortete er auf die Frage, zu welchem Zweck er hier heraufgegangen sei; einen solchen Bruder aber hatte es nie gegeben. Der Versuch der Rückkehr scheitert auf der ganzen Linie, bald schon wird er in die Nervenklinik Samaria in Ithaca eingeliefert, wo er innerhalb desselben Jahres, stumm und unbeweglich, wie er war, verdämmerte.
Unter den Füßen waren die unebenen Pflastersteine zu spüren, sie führen nicht zum Palais der Guermantes, sondern zur Šporkova Nr. 12, zu Veras Wohnung, die gleichzeitig Jacquots Kinderzimmer war, sie führen zum Gutenachtkuß der Mutter. Weit jenseits seiner Schlafenszeit, die Augen weit offen, hatte er auf dem Diwan zu Veras Bett gelegen, bis Agata nach Hause kam, bis er den Wagen, der sie aus der anderen Welt zurückbrachte, anhalten hörte, bis sie endlich ins Zimmer trat und sich zu ihm niedersetzte, umhüllt von einem seltsamen, aus verwehtem Parfum und Staub gemischten Theatergeruch.
Es scheint, als habe Mme Landau aus der lichthellen Weite der Kindervilla heraus ihr Leben bruchlos und ohne unübliche Mühen fortsetzen können. Ashman und Cosmo Solomon können wir zurückbegleiten in ihre Kinderzimmer, in ihre Kindheit aber haben wir keinen Einblick. Austerlitz‘ Kindheit wird mit der Verschickung nach Wales jäh unterbrochen und bleibt für Jahre auch seiner eigenen Erinnerung verschlossen. Gleichzeitig aber bleibt sie versiegelt und unbeschädigt, als er den unebenen Steinen folgt, öffnet sie sich ihm in der Šporkova Nr. 12 als das verlorene Paradies.
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