Kirchengeschichte
In der alten Pariser Bibliothek befindet der Dichter sich unter wahren Lesern, neben ihm saß meist ein älterer Herr mit sorgsam gestutzten Haar und Ärmelschonern, der seit Jahrzehnten an einem Lexikon der Kirchengeschichte arbeitete, in welchem er bis an den Buchstaben K gelangt war und das er also nie würde zu Ende bringen können. Marquard hat das kurze Leben, Vita brevis, in das Zentrum seiner Philosophie gestellt, unsere aufdringlichste Zukunft - er gibt nur zu wissen, was im Grunde jeder weiß - ist nicht das Endziel der Menschheit, sondern unser eigener Tod. Das Endziel der Menschheit wird seit der Aufklärung im Rahmen des sogenannten Projektes Moderne betrieben, die Erlösung soll durch Emanzipation (jeweils: Befreiung von der Welt, so wie sie ist) fort- und ersetzt werden, insofern bliebe das Projekt ein Ausläufer der Kirchengeschichte, ein Ausläufer, der sich weithin als Sackgasse erwiesen hat. Inzwischen verstauben zahllose Pläne der Planer der Moderne in den Ablagen als Futter für Archivare und Historiker. Der Kirchengeschichtler in der Pariser Bibliothek geht alphabetisch vor, zur Moderne und zumal zu ihrem Projekt ist er noch nicht vorgestoßen. Ohnehin ist unwahrscheinlich, daß er auch die säkularen Verzweigungen des Heilsgeschehens einbeziehen will. Von Marquards Ermahnung ist der auf die Kirchengeschichte spezialisierte ältere Herr kaum betroffen, mit einer winzigen, geradezu gestochenen Schrift füllte er, ohne je zu zögern oder etwas durchzustreichen, eine seiner kleinen Karteikarten nach der anderen aus, sein Blick ist nicht nach vorn gewandt, den eigenen Tod läßt er rechts und das Heil der Menschheit links liegen oder auch umgekehrt. Die nicht zu erwartende Fertigstellung seines Werkes muß ihn nicht beunruhigen, Kafka hat wenig fertiggestellt, und jede Notiz, jede seiner Zeilen wurde seither veröffentlicht. Naturgemäß sind ein Literat und ein Kirchenhistoriker nicht mit der gleichen Elle zu messen, ein etwa bis zum Buchstaben N geführtes Lexikon aber hätte durchaus seinen Wert und würde womöglich andere zur Vollendung motivieren. Die Vier langen Erzählungen, um das abschließend hinzuzufügen, berichten von Menschen, denen die Vita brevis, anders als dem Kirchenhistoriker, zu lang geworden ist.
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