Zweite Welt
Dichter und Erzähler haben Homer zum Stammvater und sprechen daher weiterhin von Blinden und nicht von visuell Herausgeforderten. Wer sehr leicht den Verstand verlieren und aus dem Leben sich hätte entfernen können, spricht weiter von Irren. Wenn der Dichter darauf besteht, in Brüssel eine Unzahl von Irren und Buckligen gesehen zu haben, ist das wohl einerseits ein phantasiertes Sühnezeichen für die belgischen Greuel im Kongo, von denen zuvor berichtet wurde, und zum anderen vielleicht auch eine Metapher für den Zustand des sogenannten europäischen Projekts, so wie er es sieht. An anderer Stelle beklagt er die rückläufige Zahl der Buckligen, von denen es früher in jedem Dorf zumindest einen gegeben habe, und rühmt zugleich ihre Fertigkeiten. In Rhode-Saint-Genèse hatte er einmal einem verwachsenen, von spastischen Zuckungen geschütteten Billardspieler zugesehen, der sich für ein paar Augenblicke in einen Zustand vollkommener Ruhe versetzen und dann mit unfehlbarer Sicherheit die schwierigsten Karambolagen bewältigen konnte. An anderer Stelle, auf Korsika, hatte er nach einer schnellen Fahrt im Mietwagen das Hotel erreicht, der Bucklige aber, den er im Flugzeug gesehen und der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, war zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster da. Und dann die die krumme alte Frau, die vor geraumen Jahren in der Station Stowmarket zugestiegen war. Von der Bechterewschen Krankheit war sie so stark vornübergebeugt, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. Viel, dachte er, braucht es nicht zum Verrücktwerden.
In den Buckligen sieht der Dichter, so scheint es, verhexte, mit einer übernatürlichen Geschicklichkeit versehene Zauberwesen, und zugleich, begegnen sie ihm, wie auch in den Irren, als die letzten Menschen. Es dauerte nahezu eine Viertelstunde, bis er auf der anderen Seite des Karrees den ersten Menschen erblickte, eine vornübergebeugte Gestalt, die sich unendlich langsam an einem Stock voranbewegte und doch auf einmal verschwunden war. Sonst begegnete ihm den ganzen Morgen in den schnurgeraden Straßen von Terezín niemand außer einem Geistesgestörten in einem abgerissenen Anzug, wild fuchtelnd, ehe auch er, den Hundertkronenschein, den der Dichter ihm zugesteckt hatte, noch in der Hand, mitten im Davonspringen vom Erdboden verschluckt wurde. Ein Verwachsener und ein Irrer, die letzten Bewohner im Todesgelände, der relative Anteil der Buckligen und Irren ist hier weitaus höher als in Brüssel. Ist auch der der einsame kleine Knabe in Manchester, der in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der den Dichter, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen, bereits den Irren zuzurechnen?
Bei Frauen scheint das Irresein milder auszufallen. Kathinka Strauss, eine vielleicht vierzigjährige Jungfer, von der es hieß, sie sei nicht ganz richtig im Kopf, ging, wenn es das Wetter erlaubte, an einem offenbar nie fertig werdenden Strickzeug strickend auf dem Platz herum, je nach Laune entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn. Dabei hatte sie, obschon sie sonst fast nichts ihr eigen nannte, immer die extravagantesten Hüte auf, einmal sogar einen mit einem Möwenflügel verzierten. Man dürfe ein Tier nicht töten, nur um sich mit seinen Federn zu schmücken, hatte der Lehrer Bein gesagt, und das muß eigentlich auch den nur mäßig Schwachsinnigen einleuchten. Die Mathild Seelos wiederum ist aus dem vorübergehend roten München in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt und hat dort für völlig hinterfür gegolten, nach kurzer Zeit aber hat sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden und sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt und etwas durchaus Heiteres an sich gehabt.
Der Dichter scheint die so oder so Behinderten zu scheuen und doch in großer Zahl anzulocken, insgeheim mag er den Verdacht haben, einer von ihnen zu sein oder doch zu werden. Im langen Gespräch mit Ernst Herbeck steht nicht der eine auf der einen und der andere auf der anderen Seite, die Übereinstimmung der Ansichten ist beeindruckend. Bald darauf sah man vom Wasser aus La Grazia mit einem runden panoptischen Bau, aus dessen Fenstern winkend, als befänden sie sich auf einem großen, davonfahrenden Schiff, Tausende von Irren herausschauten. Ein großes Fest!
Dichter und Erzähler haben Homer zum Stammvater und sprechen daher weiterhin von Blinden und nicht von visuell Herausgeforderten. Wer sehr leicht den Verstand verlieren und aus dem Leben sich hätte entfernen können, spricht weiter von Irren. Wenn der Dichter darauf besteht, in Brüssel eine Unzahl von Irren und Buckligen gesehen zu haben, ist das wohl einerseits ein phantasiertes Sühnezeichen für die belgischen Greuel im Kongo, von denen zuvor berichtet wurde, und zum anderen vielleicht auch eine Metapher für den Zustand des sogenannten europäischen Projekts, so wie er es sieht. An anderer Stelle beklagt er die rückläufige Zahl der Buckligen, von denen es früher in jedem Dorf zumindest einen gegeben habe, und rühmt zugleich ihre Fertigkeiten. In Rhode-Saint-Genèse hatte er einmal einem verwachsenen, von spastischen Zuckungen geschütteten Billardspieler zugesehen, der sich für ein paar Augenblicke in einen Zustand vollkommener Ruhe versetzen und dann mit unfehlbarer Sicherheit die schwierigsten Karambolagen bewältigen konnte. An anderer Stelle, auf Korsika, hatte er nach einer schnellen Fahrt im Mietwagen das Hotel erreicht, der Bucklige aber, den er im Flugzeug gesehen und der länger noch am Gepäckförderband hatte warten müssen, war zu seinem nicht geringen Erstaunen dort bereits eingetroffen. Auch in den nächsten Tagen ist der Bucklige bei allen möglichen Gelegenheiten immer als erster da. Und dann die die krumme alte Frau, die vor geraumen Jahren in der Station Stowmarket zugestiegen war. Von der Bechterewschen Krankheit war sie so stark vornübergebeugt, daß sie von rückwärts aussah, als habe sie keinen Kopf. Obwohl sie nach ihm am Bahnhof Liverpool Street ausstieg, saß sie bereits vor ihm in der Circle Line. Auf dem Flug nach Wien saß sie neben ihm. Als er drei Tage später von Graz nach Schwechat zurückkam, war sie auch wieder da. Viel, dachte er, braucht es nicht zum Verrücktwerden.
In den Buckligen sieht der Dichter, so scheint es, verhexte, mit einer übernatürlichen Geschicklichkeit versehene Zauberwesen, und zugleich, begegnen sie ihm, wie auch in den Irren, als die letzten Menschen. Es dauerte nahezu eine Viertelstunde, bis er auf der anderen Seite des Karrees den ersten Menschen erblickte, eine vornübergebeugte Gestalt, die sich unendlich langsam an einem Stock voranbewegte und doch auf einmal verschwunden war. Sonst begegnete ihm den ganzen Morgen in den schnurgeraden Straßen von Terezín niemand außer einem Geistesgestörten in einem abgerissenen Anzug, wild fuchtelnd, ehe auch er, den Hundertkronenschein, den der Dichter ihm zugesteckt hatte, noch in der Hand, mitten im Davonspringen vom Erdboden verschluckt wurde. Ein Verwachsener und ein Irrer, die letzten Bewohner im Todesgelände, der relative Anteil der Buckligen und Irren ist hier weitaus höher als in Brüssel. Ist auch der der einsame kleine Knabe in Manchester, der in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich hatte und der den Dichter, also wohl den einzigen Menschen, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist, um einen Penny bat für seinen stummen Gesellen, bereits den Irren zuzurechnen?
Bei Frauen scheint das Irresein milder auszufallen. Kathinka Strauss, eine vielleicht vierzigjährige Jungfer, von der es hieß, sie sei nicht ganz richtig im Kopf, ging, wenn es das Wetter erlaubte, an einem offenbar nie fertig werdenden Strickzeug strickend auf dem Platz herum, je nach Laune entweder im oder gegen den Uhrzeigersinn. Dabei hatte sie, obschon sie sonst fast nichts ihr eigen nannte, immer die extravagantesten Hüte auf, einmal sogar einen mit einem Möwenflügel verzierten. Man dürfe ein Tier nicht töten, nur um sich mit seinen Federn zu schmücken, hatte der Lehrer Bein gesagt, und das muß eigentlich auch den nur mäßig Schwachsinnigen einleuchten. Die Mathild Seelos wiederum ist aus dem vorübergehend roten München in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt und hat dort für völlig hinterfür gegolten, nach kurzer Zeit aber hat sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden und sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt und etwas durchaus Heiteres an sich gehabt.
Der Dichter scheint die so oder so Behinderten zu scheuen und doch in großer Zahl anzulocken, insgeheim mag er den Verdacht haben, einer von ihnen zu sein oder doch zu werden. Im langen Gespräch mit Ernst Herbeck steht nicht der eine auf der einen und der andere auf der anderen Seite, die Übereinstimmung der Ansichten ist beeindruckend. Bald darauf sah man vom Wasser aus La Grazia mit einem runden panoptischen Bau, aus dessen Fenstern winkend, als befänden sie sich auf einem großen, davonfahrenden Schiff, Tausende von Irren herausschauten. Ein großes Fest!
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