Donnerstag, 30. September 2010

Liest Flaubert

Sandkorn im Saum

Im zu Lebzeiten Sebalds veröffentlichten Werk findet man Selysses nicht in ein Buch Flauberts vertieft. Der französische Romancier ist ihm aber nicht fremd, denn sehr wohl ist er imstande, den Ausführungen der flaubertbegeisterten Janine Rosalind Dakyns zu folgen, wenn sie ihn auch jedesmal von neuem in Erstaunen versetzt mit ihrem Vermögen, aus der Tausenden von Seiten umfassenden Korrespondenz bei den verschiedensten Gelegenheiten längere Passagen zu zitieren, um dann beim Vortragen ihrer Gedanken oft in Zustände einer fast besorgniserregenden Begeisterung zu geraten.

Neben Flauberts Skrupulantismus mit der Folge von Versagens- und Unwertgefühlen und einer daraus wiederum sich herleitenden häufigen Schreibunfähigkeit, ist es die Leidenschaft Flauberts für den Sand, die Janine ins Auge sticht. Der Sand erobere alles. Immer wieder seien durch Flauberts Tag- und Nachträume ungeheuere Staubwolken getrieben, aufgewirbelt über den dürren Ebenen des afrikanischen Kontinents. Unzweifelhaft ist Selysses, den seinerzeit schon der Maler Aurach in die Wonnen des Staubs eingeführt hatte, von diesen Überlegungen angezogen. In einem Sandkorn im Saum eines Winterkleides der Emma Bovary habe, so Janine, Flaubert die ganze Sahara gesehen, und jedes Stäubchen wog ihm soviel wie das Atlasgebirge. Wenn dieser Staub also auch die Vororte von Rouen oder ein Landstädtchen in der Normandie zu erreichen vermag, so ist Korsika seinen Ursprungsorten doch um einiges näher und es verwundert nicht, daß Flaubert die Insel besucht hat und in seinem Gefolge auch Selysses mit einer repräsentativen Auswahl der Werke des Franzosen im Gepäck. Zu der Frage, wie der Band der Bibliothèque de la Pléiade nach Korsika gelangt, werden im übrigen unterschiedliche und sich widersprechende Auskünfte erteilt. Nach der einen Version hat ihn Selysses kurz vor der Abfahrt in die Tasche geschoben, nach der anderen hat er ihn am Tag seiner Ankunft in seinem Hotelzimmer in Piana in der Nachttischschublade gefunden.

In der Casa Bonaparte in Ajaccio findet Selysses alles noch so vor, wie Flaubert es in seinem korsischen Tagebuch beschrieben hat. Den Zugang zur Education sentimentale findet er mehr oder weniger versperrt. Er plagt sich mit diesem Roman einige Tage ziemlich und verirrt sich immer wieder in dem kaleidoskopischen Wortschatz zur Beschreibung der Kostüme und Interieurs. In einem Zug und begeistert liest er dagegen die Erzählung Un cœur simple, und indem er sie uns ausführlich nacherzählt, tauchen bedeutende Bereiche schriftstellerischer Gemeinsamkeiten auf, so wenn die Sprache auf den unnachahmliche Glanz kommt, der die aus der Kindheit hervorgeholten Ereignisse und Dinge umgibt. Vielleicht erreiche die Literatur ihren höchsten Genauigkeitsgrad nur dort, wo sie die frühesten Gefühle erinnert über die unbarmherzig sich aneinanderreihenden Jahre hinweg. Bei Sebald ist praktisch in jedem Absatz der Sog des Ritorno in infanzia spürbar, auch wenn er nur im Ritorno in patria sozusagen die Hauptrolle erhält. Wenn gerühmt wird, daß die Erkundung der Seelenzustände auf die intimste und zugleich diskreteste Weise vonstatten geht, so ist das beim Blick auf das jeweilige Gesamtwerk für Sebald wohl noch treffender als für Flaubert, denn wer hätte sich von Jean Améry nicht überzeugen lassen, daß er es gegenüber seinem Helden Charles Bovary erheblich an Empathie mangeln läßt. Das Alltägliche wird mit dem Fabelhaften und Übernatürlichen in Verbindung gebracht und genau an der richtigen Stelle, wenn man schon zu wissen glaubt, wie der Satz schließen wird, werden die Worte ins Unerwartete gewendet: wie soll man das nicht als Eigenbeschreibung lesen, denn genau das ist es, was uns bei der Sebaldlektüre den Atem raubt, die Überraschung fast jeden Wortes bei gleichzeitig ruhig dahin fließenden Sätzen und mit der weiteren Maßgabe, daß alles und nicht zuletzt das Überraschende mit zwangloser Notwendigkeit zu geschehen scheint.

Félicité, die Inhaberin des schlichten Herzens, ist unberührt von jeder Schulbildung und religiösen Erziehung, und als sie eine verspätete Einführung in die Geheimnisse der Christenlehre erfährt, findet sie sich doch nie ganz zurecht in der Christlichen Ordnung der Dinge und insbesondere nicht in der schwierigen Sache der heiligen Trinität. Von dem in ihrem Zimmer hängenden Bild des heiligen Geists schaut sie immer auch ein wenig hinüber zu ihrem über alles geliebten Papagei. Hier sind auf rührende Weise zwei große Motivstränge aus Sebalds Werk, die Heiligen und die Tiere, zusammengeführt, und es ist auch schon vorbereitet auf die sich anschließende Lektüre der Légende de saint Julien l'Hospitalier, die sich ungleich tiefer und brennender versenkt in den Kontrast, indem sie ihn als glühende Verschmelzung von perverser Jagdleidenschaft und Berufung zum Heiligenstand erfaßt.


Während Un cœur simple zu Korsika zunächst nur die Beziehung eingeht, daß die Lektüre stattfindet auf der Insel, steht La Légende de saint Julien l'Hospitalier in unmittelbarem thematischen Bezug zu dem korsischen Jagdverhalten. Obwohl das in früherer Zeit so zahlreich in den Inselwäldern wohnende Wild heute nahezu restlos ausgerottet ist, bricht in Korsika nach wie vor jeden September das Jagdfieber aus. Selysses ist von der ihm an sich widerstrebenden Lektüre der Legende in der Fassung Flauberts fasziniert und verstört zugleich. Nicht ein einziges Mal hatte er während des Lesens seinen Blick heben können von der mit jeder Zeile tiefer in das Grauen eindringenden, von Grund auf perversen Erzählung. Erst der Gnadenakt der Transfiguration auf der letzten Seite ließ ihn wieder aufschauen.

Mit dem immer unschuldiger werdenden Leben der Mrs. Ashbury hat Sebald seinerseits un cœur simple gezeichnet, dem die Transfiguration zur Heiligen nur zur Hälfte gelingt, sie bleibt stecken im Plafond: Mrs. Ashbury beschäftigt sich mit dem Sammeln von Blumensamen in Papiertüten, und in solcher Zahl hingen die weißverhüllten Stengel unter dem Bibliotheksplafond, daß sie eine Art Papierwolke bildeten, in der sie, wenn sie, auf der Bibliotheksstaffelei stehend, mit dem Aufhängen oder Abnehmen der raschelnden Samenbehälter beschäftigt war, wie eine in den Himmel auffahrende Heilige verschwand. Es möchte scheinen, als könne der spirituelle Kraftakt zum Erreichen des Heiligenstands nur zum Abschluß geführt werden kann, wenn ein großes Verbrechen als Anlaufstrecke dient. Das ist naturgemäß eine perverse Annahme, die deshalb aber nicht falsch sein muß.

Keine Kommentare: