Herzbewegend Weltliches
Der Heilige Georg begegnet uns in drei großen Bildwerken, Grünewalds Altar der Pfarrkirche von Lindenhardt, Pisanellos Fresko in der Chiesa Sant' Anastasia in Verona und Pisanellos Gemälde San Giorgio con cappello di paglia in der Nationalgalerie London. Man könnte meinen, die drei Bilder wollten uns, belassen in der Reihenfolge ihres Auftretens im Werk, eine eigene, zusammenhängende Geschichte erzählen.
Auf Grünewalds Altarbild ist Georg leicht als Häuptling der Santi Ausiliatori zu erkennen, offenbar aber ist er im Begriff, seinen Stamm zu verlassen: Auf der linken Tafel tritt uns der heilige Georg entgegen. Zuvorderst steht er am Bildrand eine Handbreit über der Welt und wird gleich über die Schwelle des Rahmens treten. Georgius Miles, Mann mit eisernem Rumpf, erzen geründeter Brust, rotgoldenem Haupthaar und silbernen weiblichen Zügen. Er wird über die Schwelle des Rahmens und damit aus der Gemeinschaft der Heiligen heraustreten.
Die Heiligen sind auf dem Fresko in der Chiesa Sant' Anastasia denn auch abwesend. An ihre Stelle ist eine verwegene Reitertruppe getreten, darunter ein kalmückischer Bogenschütze mit einem schmerzhaften Ausdruck der Intensität im Gesicht. Der heilige Georg steht im Begriff, gegen den Drachen auszuziehen, und nimmt Abschied von der Principessa. Alles ist Gegenwart und diesseitig, das wellige Land, die gepflügten Felder, die Hecken und Hügel, die Stadt mit ihren Dächern, Türmen und Zinnen.- Alles ist diesseitig, der Austieg aus der Gemeinschaft der Heiligen ist gelungen.
Nach getaner Tat stellt sich dann das Bild vollendeter Harmonie ein: San Giorgio con cappello di paglia. Die obere Hälfte ist fast ganz ausgefüllt von einer aus dem Himmelsblau hervorstrahlenden goldenen Scheibe, die als Hintergrund dient für eine Darstellung der Jungfrau mit dem Erlöserkind. Eine immerwährende selige Gegenwart unter der Obhut des Weiblichen scheint versprochen. Die Heiligen sind zurück in Gestalt des San Antonio zur Linken. Mit strengem Blick sieht der Eremit auf die glorreiche Erscheinung des Ritters, der ihm gerade gegenübergetreten ist und von dem etwas herzbewegend Weltliches ausgeht. Der Drache, ein geringeltes, geflügeltes Tier, hat sein Leben bereits ausgehaucht. Die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung versammelt auf sich allen Abendschein. Nicht der geringste Schatten der Schuldhaftigkeit fällt auf das jugendliche Gesicht Georgs. Schutzlos sind Nacken und Hals dem Betrachter preisgegeben. Der mittelalterliche Vergangenheit mit ihren Wahrheiten in der Gestalt des Antonius auf der einen und dem neuzeitlichen Ritter auf der anderen Seite ist der gleiche Bildraum zugestanden, in unserer Sichtweise nicht die Darstellung einer unvollendeten Moderne sondern eines perfekt austarierten Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Zwischen den Stationen Verona (Chiesa Sant' Anastasia) und London (Nationalgalerie) treffen wir San Giorgio in Mailand (Deutsches Konsulat) an. Sein Name wurde einer Metathese unterzogen: Giorgio Santini. Mögliche Zweifel an der Identität, die daraufhin enstehen könnten, werden aber sogleich behoben durch den wirklich wunderbaren, formvollendeten weitkrempigen Strohhut, den er in den Händen trägt, offenbar noch derselbe Cappello di paglia, der außergewöhnlich schön gearbeiteten, weitkrempigen Strohhut, den San Giorgio bei Pisanello auf dem Kopf hat. Giorgio Santini ist Haupt einer Artistentruppe bestehend aus seiner Frau, drei Töchtern und der Nonna, lauter Santini, kleine Heilige.
Aus der Vergangenheit der Bilder alter Meister sind wir übergetreten in die reale Gegenwart, allerdings nicht in unsere. Die ganze Erscheinung der Artistenfamilie erweckt den Eindruck, als sei sie allesamt aus einer mindestens ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Zeit hierher verschlagen worden. Der Strohhut, den der Ritter auf dem Kopf hat, ist nach dem Eindruck des Dichters das außergewöhnlichste Detail an Pisanellos Bild. San Giorgio con cappello di paglia - sehr verwunderlich; wirklich so ganz und gar verwunderlich? Die Schlacht ist geschlagen, der Drache erlegt, soll man da nicht den Helm ablegen und eintauschen gegen eine Kopfbedeckung die so ganz zu der sich scheinbar endlos ausbreitenden lichten Zukunft paßt. Belegt nun der Umstand, daß Giorgio seinen Hut auch Jahrhunderte später in einer Mailänder Geschäftsstelle noch trägt, daß die hochgespannten Erwartungen eingetreten sind?
Sicher nicht. Schon als Kind hatte Selysses die Erfahrung gemacht, daß der heilige Georg am Ende der hohen Friedhofsmauer in der Ortschaft W. Tag für Tag und Jahr für Jahr ohne Unterlaß mit einem Spieß dem zu seinen Füßen liegenden greifartigen Vogeltier den Rachen durchbohrt. Allem Anschein nach gleicht der Drache erheblich der Hydra, die immer wieder neu das Haupt erhebt. Aber auch die Erwartung eines endgültigen Gleichgewichtszustandes ist kaum weniger lebenskräftig. Sebald findet sie auf das Schönste verwahrt bei Hebel, der dem blind und taub sich fortwälzenden Prozeß der Geschichte Begebenheiten entgegenhält, in denen das ausgestandene Unglück entgolten wird, auf jeden Feldzug ein Friedenschluß folgt, jedes Rätsel, das uns aufgegeben wird, eine Lösung hat, und selbst die kuriosesten Kreaturen wie die Prozessionsspinner und die fliegenden Fische ihren Platz haben in der auf das sorgfältigste austarierten Ordnung. Auch zu Kellers Zeiten mochte es noch scheinen, als hätte alles ganz anders kommen können, als es dann gekommen ist. Endgültig besiegt aber scheint San Giorgio im Jahre 1913, als die Zeit sich wendet, und wie eine Natter durchs Gras der Funken die Zündschnur der Weltverheerung entlang läuft. Das Treffen im Mailänder Konsulat findet demnach unter Mithilfe relativitäts- und quantentheoretischer Phänomene zugleich in den Jahren 1912 und 1987 statt, und auch zu Beginn des Jahrhunderts konnte sich San Giorgio nurmehr als Gleichgewichtskünstler extremer Ausprägung behaupten, für den das Kochen einer Eierspeise auf dem Hochseil ein Kinderspiel war.
Am Namen und am Strohhut gibt sich der Artist im Mailänder Konsulat als der Heilige Georg zu erkennen. Würde eine der beiden Bestimmungen unterschlagen, wäre er nicht sicher zu erkennen, und gänzlich unerkennbar, obwohl weiterhin derselbe, bliebe er für uns, wenn beide Bestimmungen verschwiegen würden. Das erlaubt die Frage, an welchen Stellen noch der Heilige Georg schwer oder gar nicht erkennbar sich im Werk versteckt.
Erkannt haben wir ihn bereits als George Le Strange, der, wie der Heilige Georg bei Altdorfer, tief in den im Buch abgebildeten Wald bei Bergen Belsen eindringt. Niemand wird allerdings behaupten wollen, daß der Drache, ein eher harmloses, geringeltes und geflügeltes Tier, sein Leben bereits ausgehaucht habe, als Le Strange wieder auftaucht aus dem Wald, und daß die aus weißem Metall geschmiedete, kunstreiche Rüstung auf sich allen Abendschein versammele. Nach 1913 kann Georg nur scheitern, und ratlos verwandelt er sich im weiteren Verlauf zunächst in den Heiligen Franz und dann in den Heiligen Hieronymus.
Wenn bei Le Strange der Vorname noch eine direkte Verbindung zu San Giorgio herstellt, so fehlt diese Brücke bei der Mathild, der roten Betschwester. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Die Herstellung des Gleichgewichts ist gründlich mißlungen, nicht aber unbedingt auch für die eigene Person, denn nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, hat die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, etwas durchaus Heiteres an sich gehabt.
Nicht zuletzt Selysses, von dem wir annehmen, daß auch er auf den Namen Georg hört, ist als Wiedergänger des San Giorgio anzusehen. Die Prosakunst seines Bruders im realen Leben ist, schutzlos, wenn auch nicht ohne den Schatten der Schuldhaftigkeit, zu erstaunlichen Drahtseilakten fähig. Über die Mathild und die rote Zeit in München hat er nach dem Abschluß von Austerlitz ein eigenes Buch schreiben wollen. Im Lichte des hier vorgetragenen wäre es ein Georgsroman geworden.
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