Freitag, 27. März 2020

Wahrheitsbereitschaft

Bestimmt

Schwer beladen bis an die Bordkante zogen die Kähne vorbei. Rauschend tauchten sie aus dem Nebel auf, durchpflügten die aspikgrüne Flut und verschwanden wieder in den weißen Schwaden der Luft. Aufrecht und reglos standen die Steuermänner im Heck. Die Hand am Ruder schauten sie unverwandt voraus, jeder einzelne von ihnen ein Sinnbild der Wahrheitsbereitschaft. - Wahrheitsbereitschaft, ein Wort nach den Regeln der deutschen Sprache, das aber in den Wörterbüchern nicht zu finden ist, der Dichter hat es nach seinem Bedarf geformt. Sind die Steuermänner bereit zur oder bereit für die Wahrheit, oder trifft beides zu? Haben sie eine hinter der Nebelwand verborgene Wahrheit zu fürchten und nach Möglichkeit abzuwehren, oder können sie auf eine langersehnte Wahrheit hoffen, wenn sie zurückkehren ins Licht? Vom Ufer aus läßt es sich nicht erkennen, einem anderen Bootsmann aber kommt der Erzähler näher. Malachio, Astrophysiker und Bootseigner, nimmt den Erzähler mit auf eine Fahrt durch die Gewässer Venedigs. In der letzten Zeit hat Malachio sich weniger mit den Sternen als mit den Umständen der Auferstehung nach dem Tode beschäftigt, Antworten hat er keine gefunden, es reichen ihm aber auch schon die Fragen. Auf die richtigen Fragen gibt es wahre Antworten, meint die eine Philosophenfraktion, die andere meint, nur die Fragen seien wahr und richtig, für die es keine Antworten gibt. Eine Wahrheit in jedem Fall scheint sich abzuzeichnen, als das Boot den Inceneritore Communale passiert: Brucia continuamente, das Wunder des aus dem Kohlenstoff entstandenen Lebens löst sich in Flammen auf.

Beim zweiten Venedigaufenthalt, sieben Jahre später, bekommt der Erzähler wahrheitsbereite Steuermänner nicht zu Gesicht, ein mit Bergen von Müll beladener Kahn zieht anscheinend unbemannt vorüber, eine Ratte stürzt sich von der Bordkante ins Wasser, den Erzähler hält es nicht in der Lagunenstadt, er fährt weiter nach Padua. Er sucht jetzt die Wahrheit auf dem Feld der Kunst, die bewundernswerten Fresken Giottos in der Kapelle des Enrico Scrovegni haben es ihm angetan, er diagnostiziert eine eigenartige Bestimmtheit, die über jedem Gesichtszug der in den Fresken gebannten Figuren waltet. Bestimmtheit der Gesichtszüge, eine übliche Beschreibung, hier aber fällt sie ergänzend zusammen mit der seltsamen Wahrheitsbereitschaft der Steuerleute, wie anders denn als von Bestimmtheit geprägt sollte man sich ihren Gesichtsausdruck vorstellen. Mit bestimmter Wahrheitsbereitschaft schaut auch der Erzähler hin. Er wendet sich der Luftfahrt zu, besser noch einem technikfreien Frühstadium der Astronomie, Giottos über dem unendlichen Unglück schwebenden Engeln. Die weißen Flügel der Engel aber, mit den wenigen hellgrünen Spuren der Veroneser Erde, sind das weitaus Wunderbarste von allem, was wir uns jemals haben ausdenken können. Un petit pan de mur jaune, ein kleiner gelber Mauerfleck, festgehalten, wenn man ihn denn erkennen kann, auf einem Gemälde Vermeers, eröffnet Prousts Romanfigur Bergotte das mystische Erlebnis absoluter Schönheit und Wahrheit und auf gleiche Weise schenken die hellgrünen Spuren der Veroneser Erde auf den Flügeln der Engel Sebalds Erzähler den gleichen mystischen Augenblick. Wir, die Leser können dem nicht einfach folgen, können den Mauerfleck oder die hellgrünen Spuren auf den Flügeln der Engel nicht einfach übernehmen, wir müssen selbst die Augen offen und unsere Wahrheitsbereitschaft aufrechterhalten. Mae moesol i'r stori hon, ond nid yw'n arwydd.

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