Montag, 2. März 2020

Rund ums Sein

Unterwegs

Ohne voneinander zu wissen, sind sich der Dichter und der Philosoph neben anderem auch darin einig, daß mit dem modernen Tourismus der Gipfelpunkt, besser gesagt die makabre Talsohle der Seinsvergessenheit erreicht wurde. Vieles in der Welt, so Heidegger, sei nichts anderes noch als ein bestellbares Objekt der Besichtigung durch eine Reisegesellschaft, die eine Urlaubsindustrie dorthin bestellt hat, Venedig nurmehr noch ein totes Objekt und ein Raubstück der Fremdenindustrie. Was Delphi anbelangt, so wimmelt es im heiligen Bezirk von Leuten, die, statt ein Fest des Denkens zu begehen, nur unaufhörlich fotografieren. Ein Fest des Denkens im Geburtsland der Philosophie zu begehen, daran war Heidegger gelegen, und die berechtigten Zweifel des Gelingens hatten ihn die Reise immer wieder aufschieben lassen.

Einerseits sehen wir den Erzähler fortwährend unterwegs und auf Reisen, andererseits grenzt er sich von nichts schärfer ab als von dem von ihm so genannten Ferienvolk. Einigermaßen harmlos scheint es noch, wenn der der jetzige Lord Somerleyton eigenhändig ein Miniaturbähnchen durch die Felder steuert, auf dem eine besichtigungserprobte Anzahl von Menschen hockt, die an verkleidete Hunde erinnerten oder an Seehunde im Zirkus. Bedenklicher schon die Lage in Limone, wo gegen Mitternacht das ganze Ferienvolk paar- und familienweise unterwegs ist. Eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter waren es, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten. Was Venedig anbelangt, werden Heideggers Vorbehalte noch bei weitem übertroffen. In der Bahnhofshalle lagert hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Im Hotel Normandy am anderen Ende von Trouville-Deauville werden die nahezu ausschließlich japanischen Gäste vom Personal mit einer an Indignation grenzenden Höflichkeit durch das genau vorgegebene Tagesprogramm gelenkt. Alle drei Tage werden die Japaner im Normandy abgelöst. Vom Flughafen Charles de Gaulle werden sie in klimatisierten Autocars nach Las Vegas und Atlantic City zur dritten Station ihrer Globusglücksreise gebracht, die über Wien, Budapest und Macao nach Tokio zurückführt. Die Vormittage sowie auch die Nachmittage und die Abendstunden verbringen sie an den Maschinen des dem Hotel gegenüber gelegenen Kasinos, denen sie mit stoischer Miene ganze Hände voll Münzgeld opfern und sich wie wahre Festtagskinder freuen, wenn es klingelnd wieder aus dem Kasten springt. Hier offenbart sich der äußerst denkbare Exzeß im Seinsverlust, über dem schon fast ein Schleier unbegreiflicher Unschuld sich auszubreiten scheint.

Der Grund für die Reisen und Wanderungen des Erzählers ist der Versuch, einer besonders unguten Zeit und einer sich ausbreitenden inneren Leere zu entkommen. Innere Leere kann man wohl, wenn schon nicht ausnahmslos, auch hinter den touristischen Reiseaktivitäten vermuten, selten aber und auch nicht im Fall des Erzählers verwandelt sich die Leere in ein Fest, geschweige denn ein Fest des Denkens. Der Erzähler ist, wenn er uns begegnet, unterwegs, aber immer allein, kein Gedanke an eine Reisegesellschaft und fernab aller Urlaubsindustrie, von Globusglücksreisen gar nicht zu reden. Nicht nur reist und wandert er allein, auf den englischen Wanderungen begegnen ihm keine anderen Wanderer aus entgegengesetzter Richtung, seine Reisegefährten in Italien wiederum, Stendhal und Kafka, sind längst tot. Der Besuch von Museen, die Betrachtung von Bildern ist ein typisch touristisches Unterfangen, das der Erzähler teilt, aber nie in einer Gruppe, immer allein. In der menschenleeren Casa Bonaparte auf Korsika muß er die Kassiererin erst aufwecken, in der Chiesa Sant’Anastasia öffnet die Mesnerin das Portal für ihn allein, in der National Gallery London wartet er ab, bis die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle durchwandernden Touristen verschwunden sind, erst dann wendet er sich Pisanellos Bild zu. Wenn sich die einsame Begegnung mit dem Bild in der Wirklichkeit nicht herstellen läßt, wird sie besser in den Traum verlegt werden so etwa die Begegnung mit Tiepolos Bild Santa Tecla libera Este della peste, das uns einen Begriff gibt von dem, was sich über unseren Köpfen vollzieht.
Das Verhältnis des Dichters zur Photokamera, der Waffe der Touristen und der Geißel des Seins nicht nur in den Augen Heideggers, ist nicht leicht zu entschlüsseln. Der Erzähler reist in Italien und wandert in England ohne Kamera. In Italien ergeben sich zwei photographische Notsituationen. Der Versuch, von dem Kafka auf unheimliche Weise ähnlichen Zwillingspaar im Bus nach Riva ein Photo zu erlangen, endet im Fiasko. In Verona sind die beiden jungen, aus der Erlanger Gegend stammenden Touristen bereit, die aufgelassene Pizzeria für den Erzähler zu photographieren, verweigern aber aus unerfindlichen Gründen ein zweites Photo. Vermutlich ist einem Touristen ein vermeintlicher Tourist ohne Kamera in jedem Fall eine zutiefst verdächtige und zu meidende Gestalt. Insgesamt ist der dokumentarische Bildertrag der Reise, wie er uns im Buch vorgeführt wird, aber nicht gering. Es scheint, als habe der Erzähler nach der Rückkehr aus Italien aus seinen Jackentaschen vergessene Tickets, Eintrittskarten, Gasthausrechnungen, vermutlich aus Zeitungen herausgerissene Photos von erschreckend schlechter Qualität und dergleichen mehr hervorgezogen, alles zusammen eine Karikatur der üblichen Urlaubsbilder -, aus den Jackentaschen hervorgezogen, um sie, auf dem Weg zum Papierkorb, im durch nichts und keine Schwindelgefühle zu beirrenden schönen Fluß der Sätze pausieren zu lassen. Dem Leser ist der Widerspruch der schönen Sätze mit der anspruchslosen Bebilderung aus dem Papierkorb unerwartet selbstverständlich, wie gottbefohlen. Die Folge ist, um eine Aussage im Wortklang Heideggers zu versuchen, ein eigenartiges Gefühl der Seinsberührung durch die bebilderte Prosa.

Keine Kommentare: