Sonntag, 1. März 2020

Peripherie

Ad acta

Sowohl bei Gogol als auch in den Prosawerken Robert Walsers habe sich der Schwerpunkt immer mehr vom Zentrum in die Peripherie verlagert. Immer wieder treten seltsame Kreaturen auf, über deren vorheriger und weiteres Leben wir nichts erfahren. Tschitschikow erzählt einer jungen Dame im Ballsaal zu ihrer vermeintlichen Unterhaltung von ungefähr fünfunddreißig Personen, die er im wesentlichen ohne weitere Ausführungen zur Person nur beim Namen nennt, Marija Gawrilowna, Frol Pobedosnoj &c., sie erscheinen im Buch kein zweites Mal. Selwyn, Bereyter, Adelwarth, Aurach, Austerlitz, die Erzählungen sind benannt nach der Person und damit nach dem Zentrum, dem der Erzähler sich anzunähern versucht, die Schwindel.Gefühle und die Ringe des Saturn dagegen sind von vornherein nur  Peripherie, beide Erzählformen aber sind voller Personen, die nur einmal kurz auftreten und dann nicht wieder, Empfangsdamen, Bucklige und Irre andere noch. Den Namen dieser Personen erfahren der Erzähler und damit auch wir in den meisten Fällen nicht. Der Name ist sozusagen das amtliche Siegel der Person, unter ihrem Namen kann man sie ablegen, ad acta, und gegebenenfalls versuchen, sie mit amtlicher Hilfe wieder aufzufinden. Die Personen ohne Namen dagegen rühren sich noch, rufen nach uns.

Einige  der Leute vom Rand: In den USA verlaufen die Überholvorgänge so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand sich der Erzähler einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder mir durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie mich als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herz geschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von mir sich trennten, da fühlte ich mich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen. Hätte er vielleicht nicht abbiegen, sondern der Negerfamilie bis zur nächsten Raststätte folgen sollen, ihre Bekanntschaft machen, Namen austauschen? Bestünde dann nicht die Gefahr, mit den gewonnenen Namen den Zauber der Begegnung zu verlieren? - Wenn die Nacht sich herabsenkte, begannen in dem sonst menschenleeren Manchester an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstanden und -sprangen. Eins der Kinder, ein kleiner Knabe, hatte in einem Wägelchen eine aus ausgestopften alten Sachen gemachte Gestalt bei sich und bat den Erzähler, also wohl den einzigen erwachsenen Menschen, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist, um einen Penny für seinen stummen Gesellen. Der Erzähler gibt ihm das Geld und stellt keine weiteren Fragen auch nicht die nach dem Namen. Beruht das Schweigen auf fehlender Erfahrung im Umgang mit Kindern, oder unterbleibt die Frage mit Bedacht, um das Erlebnis nicht in der Aktenablage verschwinden zu lassen?  - Leute vom Land fällt oft beim Anblick eines Ausländers der Schreck in die Glieder und selbst wenn er ihre Sprache gut beherrscht, verstehen sie ihn oft nur schwer oder auch gar nicht. Das Mädchen im Dorfladen von Middleton hat auf die Bitte um ein Mineralwasser nur mit verständnislosem Kopfschütteln reagiert, kein Gedanke, daß man ihren Namen hätte erfahren können, alles an ihr bleibt unbeantwortet, man wird sich weiter mit ihr beschäftigen müssen.  - Als der Erzähler, rettungslos verloren, wie ihm scheint, auf dem Bahnsteig des Mailänder Bahnhofs steht, sind das Mädchen in der vielfarbigen Jacke und die Franziskanerin längst verschwunden. Ihre Namen hat er nicht erfahren, und selbst wenn durch einen Zufall der Ordensname der Franziskanerin ans Licht gekommen wäre, wäre ihm ihr nur von ihrem wahren Namen behütetes Wesen verborgen geblieben. - Der Erzähler verkündet den Namen des Artisten, den er im deutschen Konsulat Mailand trifft, Giorgio Santini, hier nun aber bestehen Vorbehalte, ihm zu glauben. Die Unglaubwürdigkeit seines Namens macht den Artisten nur noch interessanter.

Sebalds peripheres Personal ist jedem Leser immer wieder und auf ewig zur Erschließung anheim gegeben und hat kaum Ähnlichkeit mit Gogols Personal, das, nur aus Namen bestehend, ad acta gelegt ist. Wer macht sich schon  weiterführende Gedanken Frol Pobedosnoj betreffend.

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