Samstag, 1. August 2020

Heimkehr im Bus

Totenfuhre

Der Bus war stark überheizt. Einmal, als ich mich umwandte, waren die Fahrgäste, wie ich dachte, in den Schlaf gesunken, ausnahmslos. Mit verrenkten Leibern lehnten und hingen sie in ihren Sitzen. Dem einen war der Kopf nach vorn gesunken, dem anderen seitwärts in den Nacken gekippt. Mehrere röchelten leise. – Auch wenn von scheinbar nur Schlafenden die Rede ist, die Leser wissen, es ist eine Fuhre von Sterbenden und Toten.

Stachuras Erzähler ist bestens vertraut mit den Regeln des öffentlichen Nahverkehrs in den osteuropäischen Staaten und zumal in Polen. Er hat den letzten Stehplatz im Bus erwischt und steht unten auf der Ein- und Aussteigtreppe, ein oder zwei Kopf tiefer als die anderen Passagiere. Direkt vor und halb über ihm eine dunkel gekleidete Frau. Sie trägt einen grauen Mantel, an dem zum Haltegriff erhobenen Arm einen Trauerflor und auf dem Kopf ein durchsichtiges großes, auf die Schultern fallendes schwarzes Tuch, das der Erzähler in seiner niederen Stellung unmittelbar vor Augen hat. Durch das Tuch hindurch erkennt er das Profil einer anderen Frau. Sie mag schön sein oder häßlich, er möchte nur, daß sie ihren Kopf in seine Richtung wendet, daß er, lebendig, sie durch den Schleier hindurch als gleichsam Tote sieht und sie, lebendig, ihn als gleichsam Toten, daß Leben und Tod für einen Augenblick ein und dasselbe sind. Ein Bild wahrhaft filigraner Schönheit von Tod und Leben.

Beide, der Erzähler und die Frau, haben den Bus offenbar lebend verlassen, anderes wird nicht berichtet, auch die toten Fahrgäste im Bus nach Prag erwachen am Zielort zum Leben.
*
Hat man die Hälfte eines Buches gelesen, ist man froh, es so weit geschafft zu haben, oder aber beklommen, weil es nun gegen Ende geht. Bei Büchern, die einem wirklich nahe kommen, bleiben am Zenit Gefühle der einen oder anderen Art aus, man wird diese Bücher ohnehin ständig aufs neue lesen, von vorn nach hinten, von hinten nach vorn oder einzelne Seiten oder Absätze vorn, hinten oder in der Mitte. Eigentlich zählen nur diese Bücher.

Keine Kommentare: