Freitag, 3. Dezember 2021

Mittelalter in der Neuzeit

Tanz durch die Weltalter


Die Vergangenheit verschwindet nicht in der Gegenwart, auch wenn das immer wieder gewünscht wird: Zweifellos handelte es sich bei der öffentlichen Prosektur des Aris Kindt einesteils um eine Demonstration des unerschrockenen Forschungsdrangs der neuen Wissenschaft, andernteils aber, obzwar man das sicher weit von sich gewiesen hätte, um das archaische Ritual der Zergliederung eines Menschen, um die nach wie vor zum Register der zu verhängenden Strafen gehörende Peinigung des Fleisches des Delinquenten bis über den Tod hinaus. Die Spur des Blutes ist in der Neuzeit nicht dünner als zuvor, aber nicht nur Blutspuren führen vom Mittelalter in die Gegenwart, immer wieder kreuzen die Pfade San Giorgios und des Jägers Gracchus die gepflasterten Straßen, Gracchus vornehmlich in Riva, aber auch im Bahnhofspissoir von Desenzano der in einem Hinterhaus in Verona, San Giorgio etwa an am Ende der Friedhofsmauer in W., vornehmlich aber im Konsulat zu Mailand. Nun aber scheinen die frühmittelalterlichen, eher spätantiken Gestalten am Ende ihrer Wege angekommen. Gracchus, erkennbar an der eintätowierten Barke am Arm des verunglückten Jägers Schlag, in den er sich verwandelt hat, erreicht endlich den ersehnten Tod, San Giorgio als Hochseilartist mit Familienanhang ist endlich von der Verpflichtung des Heiligseins befreit. Nicht daß man aufatmen könnte, das Ziel erreicht sei. Die Straßen haben anderes mit uns vor. Die Maschinen haben begriffen, daß man nicht mehr schlafen darf, in der Brandung des Verkehrs entsteht das Leben, das nach uns kommt und das uns langsam zugrunde richten wir, so wie wir das langsam zugrunde richten, was vor uns war. Die Blutspuren werden nicht verblassen.

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