Dienstag, 7. Dezember 2021

Überdruß

Verschwinden im Schnee


Le Strange war als Offizier an der Befreiung von Bergen-Belsen beteiligt, hat dann den Dienst quittiert und sich über Jahre der Verwaltung seiner Güter gewidmet. Er habe sich dann aber von allem und besonders von den Menschen zurückgezogen und alle Bediensteten entlassen mit Ausnahme der Haushälterin Florence Barnes, die, wie ausgemacht, ihm die Mahlzeiten bereitete und an ihnen teilnahm unter Wahrung absoluten Stillschweigens. Der Rückzug aus dem bürgerlichen Leben mag, verbunden mit anderen Eindrücken und Erlebnissen, eine Spätfolge des Erlebnisses Bergen-Belsen sein. Le Strange empfindet Überdruß weniger am eigenen Leben als an der Menschheit, eine Suizidneigung wie bei den Ausgewanderten ist nicht erkennbar, er stirbt, wie man sagt friedlich, im Alter von siebenundsiebzig Jahren.

Nach Verlesung der Anklageschrift gefragt, ob er sich schuldig bekenne, antwortete der Angeklagte, er könne sich leider noch nicht entscheiden. Der Angeklagte in Nossacks wohl gelungensten Roman Unmögliche Beweisaufnahme hatte ähnlich zurückgezogen gelebt wie Le Strange, die Gesprächsdichte zwischen ihm und seiner Frau  ging offenbar kaum über die zwischen Le Strange und Florence Barnes hinaus. Auch auf dem fraglichen gemeinsamen Spaziergang am Abend des Verschwindens der Frau haben sie so gut wie nicht miteinander gesprochen, aber stumm, so der Angeklagte, waren die miteinander vertraut. Nossack erzählt oft von Leuten, die, mit seinen Worten, nicht richtig dazugehören, der Angeklagte der Unmöglichen Beweisaufnahme kommt in seiner Abwendung von der sogenannten Normalität des Lebens Le Strange nahe. Während aber Le Strange unbehelligt in seiner gewählten Kartause verweilt, wird der Protagonist der Unmöglichen Beweisaufnahme vor Gericht und also unter Menschen gebracht. Zwischen den beiden Parteien, den Juristen und dem Angeklagten, besteht, obwohl beide Seiten sich alle Mühe geben, ein wechselseitiges Unverständnis. Konfrontiert mit dem üblichen Annahmen reagiert der Angeklagte völlig desorientiert. Er kann nur immer wiederholen, seine Frau und er hätten sich in der fraglichen Nacht im Schneetreiben verloren. Dementgegen bestätigt der Wetterdienst, es sei kein Schnee gefallen an diesem Abend. Auf der Grundlage einer Spielart der Quantentheorie ist beiden Recht zu geben, dem Wetteramt und dem Angeklagten, es hat geschneit und es hat nicht geschneit, fasziniert und hilflos sehen wir mit eigenen Augen, wie die Frau im Schneegestöber verschwindet. Der im Zusammenhang damit nicht weiter bedeutsame Gerichtsbeschluß bleibt uns vorbehalten, das Protokoll bricht ab, mitten auf der Seite, mitten im Satz.

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