Donnerstag, 10. November 2022

Einsame Kunstbetrachtung

Kulturvolk

Bei der Betrachtung von Kunstwerken mag er niemanden um sich haben, er muß abwarten, bis die mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle der Galerie des Britisches Museums durchwandernden Besucher wieder verschwunden sind, bevor er sich dem Pisanello-Bild, das er sehen wollte, zuwenden kann. Zudem betrachtet der einsame Betrachter immer nur ein Kunstwerk und nicht etwa das Gesamtangebot eines Museums oder einer Galerie. Das weitgehend verständnislose Kulturvolk kann als Untergruppierung des Ferienvolks angesehen werden, er beobachtet es auf gewisse Weise fasziniert aus sicherer Distanz, ohne Anstalten aber, sich ihm zu nähern. Der kleinwüchsige Cicerone begeistert sich für die einmalige Akustik der Arena, l’assolo piu impalpabile di una violino, la mezza voce piu eterea di un soprano, il gemito piu intimo di una Mimi morente sulla scena, die Begeisterung überträgt sich, wie er sieht, in keiner Weise auf die vermeintlich kulturbeflissenen Ausflügler. 1980, bei der ersten Italienreise war die Besucheranzahl des Ferienvolks und mithin des Kulturvolks noch einigermaßen überschaubar, man muß nicht warten, bis sich Stille einstellt. Diesmal ging es um das Fresco, das der Maler Pisanello über dem Eingang zur Kapelle der Pellegrini um das Jahr 1435 verfertigt hat. Die Mesnerin von Santa Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau war, nachdem sie kurz nach vier Uhr das schwere eisenbeschlagene Hauptportal aufgesperrt hatte, einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor ihm, dem einzigen Besucher, hergeschwankt. Niemand sonst macht Anstalt, die Kirche zu betreten, weder zu religiösen noch zu ästhetischem Zwecken. Auch in Padua, Jahre später, sind wegen der schon in den frühen Morgenstunden glühenden Hitze nur wenige Menschen unterwegs. Im Inneren der Kapelle ist allein die lautlose Klage der über dem unendlichen Unglück schwebenden Engel Giottos vernehmbar. In ihren weißen Flügeln zeichnen sich, so schein es, die hellgrünen Spuren der Veroneser Erde ab, offenbar Verwandte des kleinen gelben Mauerflecks, dessen Identität immer noch nicht eindeutig bestimmt werden konnte. In der Krummenbacher Kapelle ist er allein mit sich und erwartet auch niemand sonst. Er betrachtet die rührend ungeschickt gemalten Kreuzwegstationen und denkt zugleich an Tiepolo, der womöglich gleichzeitig mit dem Krummenbacher Maler an der künstlerischen Gestaltung der Würzburger Deckengemälde gearbeitet haben mag. Die ganze Bandbreite der bildenden Kunst wird, von niemandem gestört, in der Stille der kleinen Kapelle lebendig.

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