Donnerstag, 8. März 2018

Dekadenz

Vegane Episode

Die Hautevolee tritt uns in drei Erscheinungsformen entgegen, als Traum, als Realität und als Hinterlassenschaft. Es war tatsächlich, als habe sich in Deauville die ganze Welt versammelt, die Comtesse de Montgomery, die Comtesse de Fitz James, die Baronne d’Erlanger, die Rothschild, griechische Reeder, mexikanische Petroleummagnaten. Zur späten Stunde im Speisesaal des Normandy leuchtete auf jedem Tisch durch die gedämpfte Atmosphäre wunderbar rosarot auf einer silbernen Platte ein Hummertier, das langsam manchmal eines seiner Glieder rührte. Von der wie von einem leichten Seegang bewegten Menge der dinierenden Gäste waren nur die glitzernden Ohrringe und Halsketten der Damen und die weißen Hemdbrüste der Herren zu sehen. Unergründlicher Mittelpunkt der fortwährenden Feier war jene österreichische Gräfin, femme au passé obscur, deren wahren Namen niemand kannte, niemand vermochte ihr Alter zu schätzen oder wußte, ob sie ledig, verheiratet oder verwitwet war. Soweit der Traum. Als der Erzähler am Morgen ans Fenster tritt, da erscheint die Gräfin, in dem fahl allmählich sich ausbreitenden Zwielicht, leibhaftig auf der verlassenen Promenade des Planches. Auf das geschmackloseste zusammengerichtet und auf das entsetzlichste geschminkt, kam sie daher, mit einem hoppelnden weißen Angorakaninchen an der Leine, Außerdem hatte sie einen giftgrün livrierten Clubman dabei, der immer, wenn das Kaninchen nicht mehr weiterwollte, sich niederbeugte zu ihm, um es ein wenig zu füttern von dem riesigen Blumenkohl, den er in seiner linken Armbeuge hielt. Schwer läßt sich entscheiden, ob die Traum- oder die Realszene befremdlicher ist. Die Gräfin hat sich zwischen Nacht und Morgen nicht zu ihrem Vorteil entwickelt, das Kaninchen erinnert an die von spleenigen Flaneuren spazierengeführte Schildkröte. Auch der vegane Charakter der Szene betört den Leser nicht, und doch …

Im zweiten Untergeschoß des zunächst in Great Western umbenannten und dann weitgehend stillgelegten Hotels, durch das Pereira die Gäste führt, hatte sich seinerzeit ein kühles Labyrinth zur Lagerung und Herrichtung von Backwaren und Gemüse, vorzüglich aber von rotem Fleisch und blassem Geflügel befunden. Allein der Fischkeller, wo Barsche, Zander, Schollen, Seezungen und Aale sowie Hummer- und Krebstiere jeglicher Art zuhauf auf dem aus schwarzen Schiefer geschnittenen, unablässig von frischem Wasser überflossenen Tischflächen lagen, war ein kleines Totenreich für sich. Die Hauskapelle aber schmückte ein in Goldfarben gemaltes ornamentales Bildnis der unter einem Regenbogen schwimmenden dreistöckigen Arche, zu der gerade die Taube zurückkehrte, in ihrem Schnabel der grüne Zweig. Dekadenz ist nicht vielmehr als die Leuchtreklame einer verfehlten, auf dem Stoffwechselprinzip und damit dem Verschlingen der einen durch die anderen beruhenden Schöpfung. Zweimal begegnet uns die Schöpfung im geläuterten Zustand, zunächst terrestrisch im Garten Eden und dann maritim in der Arche Noah. Stoffwechsel war in den Paradiesen notwendig unterbunden. Adam hatte den Metabolismus durch den Biß in den Apfel in Gang gesetzt, Noah war dem Fehlsignal der Taube gefolgt und war, anstatt für immer hinauszufahren aufs weite Meer, am Ararat angelandet - es ist niemals gutzumachen.

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