Sonntag, 11. März 2018

Ein ganzes Leben

Schwebezustand

Auf weniger als dreißig Seiten zieht ein ganzes Leben an uns vorbei, schwebt vorbei, der ohnehin stets auf Levitation bedachte Dichter vermeidet jede Bodenberührung, Beyle oder das merckwürdige Faktum der Liebe ist seine schwereloseste Geschichte überhaupt. Zumal die Erinnerung führt nicht auf festen Boden. Einmal besteht seine Vorstellung von der Vergangenheit aus nichts als grauen Feldern, dann wieder stößt Beyle auf Bilder von solch ungewöhnlicher Deutlichkeit, daß er ihnen nicht glaubt trauen zu dürfen. Die Stadt Ivrea sieht er aus einer Entfernung von etwa einer dreiviertel Meile bei schon abnehmenden Licht, so wie sie sich ihm seinerzeit zum ersten Mal dargeboten hatte, um dann einsehen zu müssen, daß das vermeintliche Erinnerungsbild nichts anders war, als die mentale Kopie einer in seinem Besitz befindlichen, Prospetto di Ivrea betitelten Gravur. Und umgekehrt, stößt man auf materielle Spuren eines Ereignisses, das man zuvor nur in der Imagination oder in künstlerischer Darstellung erlebt hatte, so erwartet einen nichts als Enttäuschung. Die Differenz zwischen den Bildern der Schlacht von Marengo, die er in seinem Kopf trug, und dem, was am Tatort als Beweis dessen, daß die Schlacht sich tatsächlich ereignet hatte, diese Differenz verursachte ihm ein zuvor niemals gespürtes, schwindelartiges Gefühl der Irritation. Von den Schwindelgefühlen wird er sich nie wieder ganz befreien können.

Um Klärung und festen Boden bemüht ist er vor allem anderen auf dem besonders luftiges Gebiet der Liebe. Er sucht harte Fakten und hofft sie in sogenannter gewährter Gunst zu finden. Mit dem Stock zeichnet er die Initialen seiner vormaligen Geliebten wie eine rätselhafte Runenschrift seines Lebens in den Staub, bei nüchterner Betrachtung könnte man von einer Abschußliste sprechen. Irgendwann aber muß ihm gedämmert haben, daß die realen Geliebten die Klärung des Rätsels der Liebe nur erschweren. Als Reisebegleiterin erwählt er daher die erdachte, schwerelose Mme Gherardi, sein eigenes Geschöpf, aber selbst die läßt sich von seiner um das Phänomen der Kristallisation kreisenden Theorie der Liebe nicht überzeugen. Vermutlich aber war Mme Gherardi in diesem Augenblick, schon gegen Ende der Reise, seelisch indisponiert und wenig aufgeschlossen, weil Kafka vor der Zeit und zur Unzeit den Jäger Gracchus nach Riva entsendet hatte. Vom Anblick des schweren alten Kahns, mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, war sie so ungut berührt, daß sie darauf bestanden hatte, ohne jeden weiteren Verzug aus Riva abzureisen. Der Titel Faktum der Liebe oder, die Dinge in der Weise des Trivialromans verdeutlichend: Liebe am Gardasee, könnte auf die Teile All’estero und Badereise ausgedehnt werden. Auch die beiden anderen Italienreisenden erreichen keine Klärung in der Liebesproblematik, dabei verzichtet der Erzähler, Minimalist in diesen Dingen, von vornherein auf erotische Reihenuntersuchungen und beschränkt sich auf die unilaterale Trauung mit Luciana Michelotti, von der diese nicht einmal etwas weiß. Es heißt allerdings, Frauen seien aufgrund ihres hochentwickelten spezifischen Gespürs bei Vorkommnissen dieser Art, was etwa verborgene Eheschließungen anbelangt, nie ganz ahnungslos.

Der Tod schließlich, ein nach verbreiteter Auffassung nicht weniger merkwürdiges Faktum. Auch hier versucht Beyle, sich mit zeichnerischen Mitteln Klärung zu verschaffen. Früh schon stellt er in kryptographischer Form Berechnungen seines Lebensalters an, die sich in ihrer kraxligen, ominösen Abstraktheit wie Botschaften des Todes ausnehmen. Am Abend des 22. März 1842 wirft ihn ein apoplektischer Anfall auf das Trottoir der Rue Neuve-des-Capucines. Er erlangt das Bewußtsein nicht wieder.

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