Donnerstag, 1. März 2018

Wüste

Buch der Bücher

Erst die Schrift macht Kommunikation mit Nichtanwesenden möglich und Kommunikation mit Anwesenden tendenziell überflüssig. Erst das Buch macht Anachorese möglich, ergänzt Sloterdijk, das Buch und die Wüste gehören zusammen. Und wiederum erst die Befreiung von den anwesenden Anderen durch das Buch macht die Befreiung sowohl von den Anderen als auch vom Buch durch die Wüste möglich. Cioran schließlich markiert den Endpunkt, die Befreiung von den Anderen, dem Buch und der Wüste: Que de tracas pour s‘installer dans le désert! Plus malins que les premiers ermites, nous avons appris à le chercher en nous mêmes. Was bleibt, ist ein wüstenhaftes Ich.

Abgesehen von der Frage, ob Sloterdijks Ansatz zutrifft – waren nicht etwa die schriftlosen* Prärieindianer (Apachen, Comanchen, Dakota) aus rituellem Anlaß zu ekstatischen Wüstenaufenthalten genötigt? -, führte die Entwicklung der Schrift naturgemäß nicht zu einem massenhaften Anachoretentum. Zum einen blieb die Schreib- und Lesefähigkeit zunächst auf eine schmale Elite beschränkt, und zum andern fühlten die meisten und fühlen sich auch weiterhin unter ihresgleichen wohler als in Gesellschaft der Bücher. Auch blieb und bleibt der Wüstenaufenthalt überwiegend zeitlich beschränkt.

Im Werk des Dichters ist die Zahl der in Frage kommenden Probanden verhältnismäßig hoch. Als wir den Erzähler in Wien kennenlernen, hat er offenbar gerade seine Schreib- und Leseermitage verlassen, um sich unter Anwesende zu begeben, ein Unterfangen, das letztlich scheitert, er findet niemanden, mit dem er reden kann, nicht einmal fernmündlich, nur mit den Dohlen und mit einer weißköpfigen Amsel den Anlagen vor dem Rathaus hat er des längeren geredet. Bei seiner zweiten Italienreise ist er erfolgreicher, vorausschauend hat er seinen Schreibblock dabei, so daß ein Wechsel zwischen den beiden Verhaltensformen möglich bleibt. Austerlitz, um uns ihm zuzuwenden, nutzt seinerseits den Erzähler als Tor zum Austritt aus seiner Eingezogenheit. Alleinreisende im wörtlichen und im übertragenen Sinn sind nach manchmal tagelang nicht unterbrochenen Schweigen oft dankbar, eine Ansprache zu finden und dann auch bereit, sich einem fremden Menschen rückhaltlos zu öffnen. Rückhaltlos ist sicher das richtige Wort, der Erzähler muß fortan im wesentlichen dann nur noch das erzählen und unter die Leute bringen, was Austerlitz ihm erzählt. Zusätzliche Gesprächspartner, andere Andere, benötigt Austerlitz offenbar nicht. 

Als der Erzähler Salvatore Altamura wie verabredet vor einem Café in Verona trifft, ist dieser versunken in die Lektüre eines Buches mit dem Titel 1912 + 1. Nach längerem Zusammensein mit anderen und zumal an Feierabenden muß er sich, wie er bekennt, in die Prosa flüchten wie auf eine Insel, eine Form des Anachoretentums, die jedem wahren Leser unmittelbar einleuchtet. Wiederum eine andere Sache ist es mit dem Prediger Elias, einem Sechstageeremiten. Er sitzt die Woche über in seiner Arbeitskammer wie Hieronymus im Gehäuse und arbeitet an der Predigt für den kommenden Sonntag. Völlig niedergeschlagen kommt er am Abend aus der Kammer hervor, um am folgenden Morgen wieder in ihr zu verschwinden. Keine seiner Predigten hat er je aufgeschrieben, sondern sie immer nur in seinen Kopf eingemeißelt. Das Buch der Bücher wird vor ihm gelegen haben, aber vermutlich hat er es so gut wie nie aufgeschlagen, weil er es längst zur Gänze memoriert hatte, eine eigenwillige Form sekundärer Schriftlosigkeit. Nach der sonntäglichen Strafpredigt, die die Gemeinde regelmäßig kreideweiß zur Kirchentür herauskommen ließ, war er für den Rest des Tages in verhältnismäßig aufgeräumter Stimmung und zugänglich für die anderen, bevor dann am Montag das gleiche Lied im gleichen Rhythmus seine Fortsetzung findet. Cioran sendet währenddessen unablässig aphoristische Signale aus der inneren Wüste.

*Parallel zur Verschriftlichung ihrer Sprachen haben sich die Überlebenden in Verfolgung des ekstatischen Ziels dann stärker dem Alkohol zugewandt.

Keine Kommentare: