Naturvölker
Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der alten Weiber einsteigen,
die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße
standen. Es kam auf diese Weise bald eine ganze Zahl solcher Tiroler Weiber
zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem hinten im Hals wie eine Vogelsprache
artikulierten Dialekt vornehmlich, ja ausschließlich von dem nicht mehr enden
wollenden Regen. – So wie der Erzähler auf die Tirolerinnen schaut, mit
Abneigung und Unverständnis, mögen im Indianerland die weißen Siedler,
Bilagáana, auf die indigene Bevölkerung geschaut haben. Diesseits der Grenze
nach Tirol, in W., lebte seinerzeit der Stamm der Dünnzöpfigen, kleine, dunkle
und böse Bäuerinnen und Mägde, die Mütter, Frauen und Töchter der Bauern, die
bis in die Nacht hinein in dem übel beleumundeten Wirtshaus hockten und oft bis
zur Besinnungslosigkeit tranken, ein übliches Verhalten bei durch den Kontakt
mit der höheren Zivilisation depravierten Stämmen. Aus dem Rahmen gefallen war
einzig die Romana, eine Art Pocahontas, die mit den randvollen Gläsern durch
bereits angetrunkene Bauern- und Holz- knechtsgesellschaft schwebte mit einer
Leichtigkeit, als sei sie von einem anderen Stern. Mittlerweile, nach dem
Aussterben des Stamms der Dünnzöpfigen, ist der Engelwirt eine sogenannte Stätte gepflegter Gastlichkeit. Auch
seinerzeit waren die Dünnzöpfigen längst nicht mehr tonangebend im Land. Die
zugewanderte Seelossippe
zählte nicht zu den Dünnzöpfigen, am wenigsten die Mathild,
die, mit vollem Haar und hochgewachsen, in ihrem schwarzen Kleid oder einem
schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim
schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, etwas durchaus Heiteres an sich
gehabt hat. Auch die Ladenbesitzerin Frau Unsinn, die mit einer Pyramide aus
goldenen Sanellawürfeln ein Zeichen der auch in W. anhebenden neuen Zeit
gesetzt hatte, gehört ebensowenig zu den Dünnzöpfigen wie die ehemalig
Engelwirtin Regina Zobel oder gar die Modistin Valerie Schwarz aus dem
Böhmischen, die zwar von geringen Körpergröße aber üppig war und ausgestattet
mit einer Brust von Ausmaßen, wie man sie später nur noch einmal, und zwar an
der Trafikantin in Fellinis Film Amarcord, gesehen hat. Auf zwei Wesen engelhafter Unsichtbarkeit, die
nur einen ausgeliehenen Namen haben, den ihre Ehegatten, und keinen eigenen,
ist noch einzugehen. Die blasse Frau des Dr. Rambousek war aus der mährischen
Stadt Nikolsburg nach W. gekommen, was für sie wahrscheinlich eine Verbannung
an das Ende der Welt gewesen ist. Nach dem Tod ihres Mannes hören wir kein
weiteres Wort über sie, so als wäre sie nie dagewesen, als hätte es sie nicht
gegeben. Die ebenfalls namenlose Gemahlin des aus dem Rheinischen stammenden
einbeinigen Engelwirts Sallaba war dem Hörensagen nach eine sehr schöne, den
Ort ganz offensichtlich von Herzen verabscheuende Frau. Als dann Sallaba eines
Nachts die gesamte Einrichtung der Gaststube zerstört und zerschlagen hat, saß die
Frau Sallaba wie vernichtet auf der Kellerstiege und weinte sich die Augen aus.
Die indigenen Frauen, die Tirolerinnen wie auch die Dünnzopfigen
bleiben namenlos, ohnehin ist bei den Naturvölkern der genannte Name oft nur
eine Attrappe, hinter der der wahre Name verborgen bleibt. Kleingewerbetreibende
wie die Valerie Schwarz und andere haben ihren vollen Namen, die Frauen des
Arztes und des Wirtshauspächters verfügen nur über den durch das Ehesakrament geliehenen
Namen, der Taufname wird nicht angezeigt. Sollte man länger und intensiver
nachdenken über diese Staffelung?
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