Samstag, 12. Mai 2018

Rechtspflege

Bürgernah

Man wird Austerlitz‘ Schilderung des Brüsseler Justizpalastes als kafkaesk bezeichnen. Viele Stunden, so Austerlitz, sei er durch dieses steinerne Gebirge geirrt, durch Säulenwälder, er gieng geradewegs über Treppen und Gänge, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß ihn je ein Mensch und am wenigsten ein Vertreter der Rechtspflege nach seinem Begehren gefragt hätte. Kleingewerbetreibende und Händler hätte man vormals treffen können, heißt es, den Inhaber eines Tabakhandels etwa, eines Wettbüros oder ein Getränkeausschanks, und einmal soll sogar eine Herrentoilette nebst Friseursalon im Souterrain von einem Menschen namens Achterbos betrieben worden sein.

Bei näherem Hinsehen ist der Justizpalast nicht nur in einer allgemeinen, vagen Weise, sondern in einem präzisen Sinn kafkaesk, er wird, wenn auch nicht auf den ersten Blick, als eine Variation, eine gedrängte Paraphrase des Rechtswesens im Proceß erkennbar. Wenn sich im Justizpalast der Alltag in Form von Läden und Buden breit macht, so dringt im Proceß die Rechtspflege, sozusagen von der anderen Seite her, in den Alltag der Menschen, in ihre Wohnbereiche vor. Im Ergebnis ist es das gleiche Gemisch. Nach seiner denkwürdigen Verhaftung verbleibt K. in Eigengewahrsam, die erste Einvernahme in seiner Angelegenheit findet nicht im Justizpalast statt, den es am Ort der Handlung durchaus gibt, sondern in einem Wohnviertel der Vorstadt. Das Gebäude mit dem Sitzungssaal unterscheidet sich in nichts von den anderen Mietshäusern in der Juliusstraße. Über Treppen und Gänge geht es nach oben. Der Gerichtsdiener und seine Frau bewohnen einen Nebenraum des Sitzungssaals und müssen das Zimmer an den Sitzungstagen nicht nur räumen, sondern ausräumen. Die Gesetzbücher, in denen die Richter blättern, sind in Wahrheit pornographische Schriften. Die Gerichtskanzleien befinden sich auf dem Dachboden des Mietshauses, die Verlotterung des Gerichts ist entwürdigend. Die ohnehin schon schlechte Luft wird beeinträchtigt durch die überall zum Trocknen ausgehängte Wäsche. Zeigen Sie mir den Weg nach draußen, so K., ich werde ihn verfehlen, es sind so viele Wege hier. K. stand noch einen Augenblick still und lief dann die Treppe hinunter ins Freie, so frisch und in so langen Sprüngen, daß er von diesem Umschwung fast Angst bekam. Die Freiheit wird nicht währen.

Kafkas Welt ist völlig durchdrungen und durchsetzt von absurden Organen der Rechtspflege. Immerhin war das die Zeit am Anfang des Jahrhunderts, als Recht noch nicht ganz und gar zu Unrecht geworden war. Nach der Katastrophe steht das Recht naturgemäß nicht mehr hoch im Kurs, im Brüsseler Justizpalast liegt der Rechtsbetrieb allem Anschein nach völlig brach. Der Richter Farrar hatte auf Wunsch seines Vaters in Cambridge und London Rechtswissenschaften studiert und in der Folge, wie er mit einem gewissen Entsetzen sagte, mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen zugebracht. Er war in den Ruhestand eingetreten, um sich der Zucht seltener Rosen und Veilchen zu widmen. Rosenzüchter im einen oder anderen Sinn, so kann man die meisten sehen, die dieses postkatastrophische Prosawerk bevölkern.

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