Dienstag, 26. Juni 2018

Bunte Federn

Fünf Dollar

Ein Trinkgenosse von Mundek und Witek berichtet, sein Vater, ein weitgereister Mann, habe ihm seinerzeit von den verschiedenen Erdteilen und den darin lebenden Menschen berichtet. Bei den Indianern wisse man noch immer nicht genau, ob sie mit Federn auf dem Kopf geboren wurden oder ob die Federn sich erst später einstellen. Wilde Leute seien es in jedem Fall. Die Chinesen, so der Vater weiter, seien wiederum ganz anders, sie hätten flache, quadratische Nasen. Und nun gar die Murzyny, was solle man da sagen. Einmal habe ein Neger eine Wurst mit dem Vater geteilt und ihm dann fünf Dollar geschenkt, weil der sich nicht vor ihm geekelt habe, eine tiefe Zuneigung habe er, der Murzyn, aus Dankbarkeit zum Vater gefaßt. Verschieden sind die Menschen auf dieser großen weiten Welt.

Der Erzähler, Adroddwr, hat mit Chinesen und Indianern keine unmittelbaren Erfahrungen, mit den Murzyny, den von ihm so genannten Negern, sehr wohl. Schon die weißen Vertreter der amerikanischen Besatzungsmacht im Allgäu waren schwer erträglich. Sie ließen die von ihnen requirierten Häuser verlottern, hatten keine Blumen auf dem Balkon und statt Vorhängen Fliegengitter im Fenster, wie man es aber mit den Negern halten sollte, das wußte kein Mensch. Es gibt keinen Grund für die Annahme, der noch sehr junge Erzähler habe sich der allgemeinen Einschätzung verschlossen. Viele Jahre später wird er in den USA auf dem Highway eines besseren belehrt. Die Überholvorgänge verliefen so langsam, daß man, während man Zoll für Zoll sich nach vorn schob oder zurückfiel, sozusagen zu einem Reisebekannten seines Spurnachbarn wurde. Beispielsweise befand er sich einmal eine gute halbe Stunde in Begleitung einer Negerfamilie, deren Mitglieder ihm durch verschiedene Zeichen und wiederholtes Herüberlächeln zu verstehen gaben, daß sie ihn als eine Art Hausfreund bereits in ihr Herz geschlossen hatten, und als sie an der Ausfahrt nach Hurleyville in einem weiten Bogen von ihm sich trennten, da fühlte er sich eine Zeitlang ziemlich allein und verlassen.

Die guten Erfahrungen mit der Wurst und dem Fünfdollargeschenk auf der einen und dem Freundschaftschluß auf dem Highway auf der anderen Seite waren sicher hilfreich, aber letztlich ist das Schnee von gestern, neiges d’antan. Inzwischen wissen wir, alle Menschen sind vollkommen gleich, die Federn sind nur angesteckt. Die Menschen sind gleich von vorn und von hinten und gegenläufig und von oben bis unten und gegenläufig, zugleich aber sind sie vielfältig und bunt. Diese Erkenntnis führt zwangsläufig zum guten Ende der Geschichte, wir haben es unmittelbar vor Augen.

Sonntag, 24. Juni 2018

Kaput

Unsterblich

Dostał się pod koła, pokatulkało go i kaput, er geriet unter die Räder, wurde zerquetscht und kaputt. Der zunächst dunkle Sinn des Eingangssatzes der Siekierezada erhellt sich bald, die Passagiere im Zug unterhalten sich auf robuste Art über den gerade gemeldeten Unfalltod Zbigniew Cybulskis. Schon immer war Cybulski zu spät auf den Bahnhöfen erschienen und auf die bereits angefahrenen Züge aufgesprungen, einmal zu viel nun. Durch den Tod im Verkehr war Cybulski, schon lange als der polnische James Dean gehandelt, seinem Vorbild noch nähergerückt, den Glanz des selbstgesteuerten Porsche mußte er allerdings entbehren. Cosmo Solomon, der Polospieler und Playboy von Weltrang, hatte von den vielen Möglichkeiten eines aufsehenerregenden Todes und posthumer Unsterblichkeit, die sich ihm auf seinen Reisen zweifellos geboten haben, keine wahrgenommen. Als er mit bewegungslos herabhängenden Armen auf einem Schemelchen in seinem ehemaligen Kinderzimmer aufgefunden wird und anschließend in der Nervenheilanstalt Ithaca verdämmert, ist es zu spät. Gerald Fitzpatrick kehrt von einem seiner Flüge in der Cessna über den Alpen nicht zurück, er hat den ihm angemessenen Tod gefunden, sich zuvor aber nicht um hinreichende Prominenz für den Nachruhm gekümmert. Aurach, für dessen Bilder inzwischen an den Kunstbörsen enorme Preise gezahlt werden, hat den Vorsatz gefaßt, seinem von der Krankheit dominierten Zustand, den er als schandbar empfand, möglichst bald zu entkommen auf die eine oder andere Weise, in jedem Fall aber so unauffällig wie möglich.

Freitag, 22. Juni 2018

Sted

Zu zweit

Becketts Helden sind in der Mehrzahl zu zweit unterwegs, Mercier und Camier, Estragon und Wladimir, andere noch. Der Erzähler, Adroddwr, scheint allein zu reisen, tatsächlich handelt es sich oft um verdeckte Duos, besser gesagt Duos, für die es zu spät ist, Kafka, Bereyter, Adelwarth sind die toten Reisegefährten, in den Schwindel.Gefühlen streift zudem das Duo der Untoten, Gracchus und Giorgio, umher. In Austerlitz endlich kommt es zu einer Paarbildung zweier Lebender, ein enges Beisammen ist es nicht. Weitaus näher bei Beckett sind die Helden des in Polen zu Recht geliebten, in Deutschland, so unverständlich wie unverzeihlich, fast unbekannten Edward Stachura, STachura EDward, Sted, wie er sich selbst genannt hat und wie ihn seine Leser heute noch nennen, lange nach seinem frühen Tod. Wie es scheint, ist nichts, weder die Lyrik noch die Prosa, ins Deutsche übersetzt. Im Roman Cała jaskrawość, All das gleißende Licht, haben wir es mit dem Erzähler Mundek (Edmund Szerucki) und seinem Freund Witek (Wincenty Rozański) zu tun, zwei Saisonarbeiter mit intellektuellem Hintergrund beim Säubern eines Wasserreservoirs, in dem anderen Roman Siekierezada, Tausendundeine Axt, stoßen wir auf Pradera als Erzähler - der sich unter bestimmten Bedingungen immer wieder alternativ auch als emanuel delawarski vorstellt - und Peresada, zwei Saisonarbeiter beim Holzfällen. Witek und Mundek vor allem sind ein vorbildliches Paar, unzertrennlich wie Becketts, konfliktfrei wie Sebalds Helden, ein Herz und eine Seele, kumpli. Gern wäre man dabei, sed tertius non datur, wie man Stachura zufolge in Island sagt.

Grundlage der Erzählung ist der polnische Alltag mit Alkohol und Zigaretten, mit Trinkgelagen oder auch Ausflügen an arbeitsfreien Tagen, wódka to jest człowiek, z którym można porozmawiać, der Wodka ist ein Mensch, mit dem gut reden ist. Jak przyjemnie jest opowiadać o tych newinnych sprawach, wie angenehm ist es, von diesen unschuldigen Dingen zu erzählen. Erzählt wird von den unschuldigen Dingen mit einer Milde und Freundlichkeit, wie sie in der polnischen Prosaliteratur selten ist. Besondere Rücksichtnahme und Zuneigung gilt den alten Frauen, in deren Haus die Saisonarbeiter ihr Quartier haben, eine drohende Schlägerei verwandelt sich unversehens in Freundschaft und selbst der Berserker, den man an Mord und Todschlag nur dadurch hindert, daß man ihm immer neue Möbel in den Weg stellt, die er dann umgehend zertrümmert, selbst er wird nach dem Amok, als er erschöpft dasitzt, mit freundlichem Mitleid bedacht. Immer wieder stößt man auf Sätze in Becketts Tonfall, insistierende Exaktheit bei Belanglosigkeiten etwa: Und geradeso, wie wir zuvor an der Böschung entlanggegangen waren, einfach drauflos, als würden wir ewig so gehen, so saßen wir jetzt da. Identisch. So als würden wir für immer so sitzen. Für die Ewigkeit. So saßen wir da. Im gleichen Stil. Im gleichen Geist. Denn so war unter anderem unsere Beziehung zu dieser Welt. - Sted bleibt dieser einen Sprachebene aber nicht treu. Immer wieder erleben wir seltsame, geradezu metaphysische Auf- und Abschwünge. A potem opadł mnie nagle smutek, plötzlich aber überfiel mich Traurigkeit. Jak długo można gryźć metal, jak długo można jeść rdzę, wie lange kann man am Metall nagen, wie lange kann man Rost essen? Wo aber Not ist, wächst das Rettende auch: Oto jesteśmy, których kochasz nas i którzy ciebie kochamy, hier sind wir, die du uns liebst und die dich lieben: pory roku, die Jahreszeiten, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Tage und Nächte, Monate, Dekaden, Zikaden, Wochen, Stunden, Eisenbahnschienen, Wege, Irrwege, oh, die wunderbaren Irrwege, Vögel, Fische, Böcke, Musikinstrumente aller Art … i tak dalej, Wörter, die als Wortgeröll irgendwann abstürzen zum Ausgangspunkt. Die Übergänge werden nicht als Brüche erlebt, wir lesen eine sich ständig bewegende, atmende Prosa mit großer Amplitude, cała nędza i cała wielkość, alle Not und alle Größe.

Und dann habe ich alles im gleißenden Licht gesehen. Das Ganze. All das Grelle. Ja, nun ist es gut. In greller Klarheit habe ich gesehen, es geht nicht um den Tod, nicht um das Leben, nicht um Sinn und Unsinn, nicht um das menschliche Wesen und das Sein, nicht um Grund und Folge, nicht um Materie und Geist, nicht um Herz und Verstand, nicht um Gut und Böse oder um Licht und Dunkelheit. Es geht um all das gleichzeitig, angereicht auf einem Tablett. - An bipolarer Störung leidend und dem gleißenden Licht nicht länger gewachsen hat Sted Stachura sich 1979 im Alter von einundvierzig Jahren umgebracht.

Donnerstag, 21. Juni 2018

Śmierć (lat. mors)

Ankündigungen

Nur eines habe ich noch zu erledigen, den Tod. Ich werde auch den Tod erledigen, und wenn ich dabei draufgehe, choć mogę przy tym zginąć. So explizit und launig äußern sich Sebalds Morituri bei weitem nicht, am klarsten drückt sich noch Aurach aus. Er habe den Vorsatz gefaßt, seinem Zustand, den er als schandbar empfand, möglichst bald zu entkommen auf die eine oder andere Weise. Der konkrete weitere Verlauf wird uns dann vorenthalten. Bei Dr. Selwyn erinnert sich der Erzähler nachträglich, daß er ihm bei ihrem letzten Treffen zum Abschied mit einem eher abgründigen Lächeln zum Abschied die Hand gegeben hatte, was äußerst ungewöhnlich war. Wenige Wochen darauf, im Spätsommer, nahm er sich mit einer Kugel aus seinem schweren Jagdgewehr das Leben. Bereyters Windjacke hatte bald vierzig Jahre unbenutzt an der Garderobe gehangen, als Mme Landau in der Wohnung weder Bereyter noch die Jacke antrifft, weiß sie, lebend würde sie ihn nicht mehr sehen. Er hatte sich dort, wo die Bahnlinie in einem Bogen aus dem kleinen Weidenholz herausführt und das offene Feld gewinnt, vor den Zug gelegt. Adelwarth kündigt sein Ausscheiden aus dem Leben auf eine besonders kryptische Art auf dem Schriftwege an: Have gone to Ithaca. Er wird Ithaca nicht lebend verlassen.

Montag, 18. Juni 2018

Futsch

Foutu

Das Christentum ist futsch, die Geschichte aber auch. Wurde das Gespräch mit François Bondy in deutscher Sprache geführt, so daß der elegante Satz unmittelbar Cioran zuzurechnen ist? - das Cioran vertrautere foutu ist allerdings, man muß es einräumen, nicht weniger ausdruckstark. Auch der Dichter, wenngleich er bei der Niederschrift seiner Eindrücke zu längeren Sätzen neigt, hätte an der knappen Prägnanz seine Freude gehabt. Glaube und Geschichte, ihre Niederlage ist ein und dieselbe Sache. Als die Philosophen nicht mehr übersehen konnten, wie angeschlagen der christliche Glaube war, versuchten sie mit Hilfe einer entsprechend gedeuteten Geschichte die Illusion einer auf den Menschen ausgerichteten Welt zu wahren, vergebliche Liebesmüh. Reine Freude bereitet diese Wahrheit niemandem, wer sieht schon gern den heiligen Franziskus mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben, und wer hätte sich, als am 13. April 1995 die Sonde in die Tiefe der Zeit gelassen wird, nicht gewünscht, daß etwas Kohärentes und Sinnvolles zutage käme. Der Dichter bewahrt für den eigenen Gebrauch San Giorgio, schon unter Pisanellos Strohhut von herzbewegender Weltlichkeit, als den hochseiltauglichen Giorgio Santini, Gracchus befördert auf seiner Barke pagane, noch nicht endgültig geprüfte und abgewiesene Einsichten.

Dienstag, 12. Juni 2018

Drei Ausflüge


Bleibende Erinnerung

Sinn und Ziel eines Ausflugs ist es, zu photographieren und photographiert zu werden, eine bleibende Erinnerung soll gewährleistet sein. Die Leser müssen auf ein Photo des vom jetzige Lord Somerleyton eigenhändig durch die Felder gesteuerten Miniaturbähnchen verzichten, die auf dem Bähnchen hockenden besichtigungserprobten, an verkleidete Hunde oder an Seehunde im Zirkus erinnernden Menschen werden eine reiche Lichtbildbeute zurück in ihre Häuser und Wohnungen tragen. - Otto Pick überredet Kafka, mit ihm nach Ottakring hinauszufahren und Albert Ehrenstein zu besuchen, mit dessen Versen Kafka beim besten Willen nichts anfangen kann. Beim Besuch des Praters ist dann Lise Kaznelson dabei. Als sie sich zur Krönung des Ausflugs alle miteinander als Insassen eines Aeroplans, der sich über das Riesenrad erhoben hat, photographieren lassen, ist Kafka zu seiner eigenen Verwunderung – hatte er doch den ganzen Tag über an Irritationen und Kopfweh gelitten – der einzige, der in dieser Höhe noch eine Art Lächeln zustande bringt. Bilder können trügen, wie jeder weiß. - Wie wenig wohl Bereyter sich zu jener Zeit befunden haben mag, sieht man auf einer kleinen Sonntagsnachmittagsphotographie, zum Erschrecken mager ist er, fast auf dem Punkt der körperlichen Verflüchtigung. Die insgesamt acht Personen stehen auf einer Uferpromenade, einige an das Geländer gelehnt, das vor einem Sturz auf den tiefer gelegenen felsigen Gewässerrand bewahrt. Weder mit den Ausflüglern noch mit dem Ausflugsziel werden wir bekannt gemacht. - Als der Onkel beschließt, I have to get out oft the house, nimmt er den Dichter mit auf den Ausflug ans Meer. Zwei Jahre später schickt er ihm das Photo, das er von ihm am Strand gemacht hat. Der Dichter weiß nicht recht, was damit anfangen und legt es ab im sozialen Netzwerk seiner Prosa. Dem sogenannten Selfie, als der ultimativen Krönung des Ausflugsphotos, war er noch nicht ausgesetzt.

Montag, 4. Juni 2018

Papieros

Verfolgung

Paliłem papierosa, byłem niezależny, ich rauchte eine Zigarette, ich war mein eigener Herr: ein schöner Satz der die Literaturfähigleit der Zigarette zweifelsfrei und nachhaltig unter Beweis stellt. Als Stachura, der polnische Lyriker und Prosameister, den Satz in den frühen sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts niederschrieb, hatte er sich nicht gegen höhere Gewalten der europäischen Zentrale zur Wehr zu setzen, die Zeit war noch nicht gekommen, er bestätigt, ohne sich viel dabei zu denken, nur die persönlichkeitsfördernde Kraft der Zigarette. GIEWONT rauchte man damals in Polen, ein hartes Kraut und ein unverkennbarer Sargnagel, ZUBAN im Alpenvorland. Auch zur Schaffenszeit des Dichters war die Zigarette noch nicht verfemt, er hatte aber wohl, anders als Stachura, kein rechtes Vertrauen in ihre literarische Tauglichkeit. Der verfolgten Zigarette wäre er womöglich beigesprungen, so wie er den Negern, den Zigeunern, den Buckligen und den Irren beigesprungen ist, als man begann, ihnen nachzustellen. Der damaligen Lage gemäß bekennt sich der Erzähler nur an einer Stelle zum Zigarettenrauch und auch das nur indirekt. Ernst Herbeck verzichtete darauf, etwas zu essen und nahm sich statt dessen lieber eine der Zigaretten, die der Erzähler ihm anbot. Daß der Erzähler seinerseits zur Zigarette greift, ist mehr als wahrscheinlich, bleibt aber unerwähnt. Nachdem er ein paarmal mit einer gewissen Wertschätzung das Päckchen mit der englischen Beschriftung in seiner Hand gewendet und tief und kennerisch den Rauch eingezogen hatte, übernimmt Herbeck die literarische Würdigung: Auf Dassie in Flammen aufgeht.

Sonntag, 3. Juni 2018

Vier Konterfeis

Maskotten

Offenbar war dem Dichter daran gelegen, in jedem der vier Prosawerke einmal sein Konterfei zu sehen.

Schwindel.Gefühle
Die Frage, worin sich der Erzähler vom Autor unterscheidet, soll, wie es scheint, klar beantwortet werden: es gibt keinen Unterschied. Schon die vom Brigadiere gefertigte Verlusturkunde für den abhanden gekommenen Paß identifiziert den Erzähler als W. Sebald, der kurze Zeit später Ersatzpaß zeigt überdies sein aus einem rumorenden Photoautomaten im Mailänder Bahnhof stammendes Konterfei. Durchgehend ist das Bemühen zu erkennen, das Erzählte als wahrheitsgemäß zu dokumentieren, den Besuch des Giardino Giusto mittels des Eintrittsbillett, den Besuch der Pizzeria Verona durch den Rechnungsbeleg. So wie der Erzähler seinen überhasteten Aufbruch aus der Pizzeria beschreibt – ich lege 10 000 Lire auf den Tisch, raffe die Zeitung zusammen, stürze auf die Straße hinaus, laufe zur Piazza hinüber, lasse ein Taxi rufen -, verwundert es allerdings, daß er Sinn dafür hatte, den Beleg mitzunehmen. Der Erzähler ist dadurch gehandicapt, daß er keinen Photoapparat dabei hat. Gern sähe man ein Photo des Graffito Il cacciatore im Bahnhofspissoir von Desenzano sowie ein weiteres Photo mit der Ergänzung nella silva negra von eigener Hand. Dennoch ist man letztlich froh, daß er nicht etwa versucht, einen der vor dem Bahnhof wartenden Taxifahrer zu überreden, das Pissoir zwecks Anfertigung einer Photographie aufzusuchen, Das Fiasko wenige Zeit später im Bus nach Riva, als er vergeblich versucht, ein Bild der kafkaesken Zwillinge zu erhandeln, reicht völlig.

Die Ausgewanderten
Dann holte der Onkel Kasimir eine Kamera aus seinem großkarierten Überzieher heraus und machte diese Aufnahme, von der er mir zwei Jahre später, wahrscheinlich, als der Film endlich voll war, einen Abzug schickte. - Man könnte den Eindruck haben, der Autor wisse nicht recht, was anfangen mit dem verspätet übersandten Bild und habe es daher zunächst in der Prosa zwischengelagert. Handelte es sich etwa auch in den Schwindel.Gefühlen weniger um Dokumentation als um Entsorgung? Eintrittskarten, Gasthausrechnungen, provisorische Pässe, man findet sie in irgendwelchen Taschen und zögert im ersten Augenblick der Erinnerung, die sie auslösen, das Gefundene gleich dem Müll anheimzugeben, was eignet sich besser als die Prosa für die vorläufige Verwahrung. Der Leser steht im Fall des Bildes aus Amerika allerdings vor der Schwierigkeit, daß er den Autor in keiner Weise erkennen kann, daß er, was die Identität anbelangt, also auf dessen Wort angewiesen ist, ein Wort, das bekannt ist für seine Unzuverlässigkeit in Sachfragen.

Die Ringe des Saturn
Diese Aufnahme wurde vor zirka zehn Jahren gemacht, erfahren wir. Die libanesische Zeder, an die der Autor, in Unkenntnis noch der unguten Dinge, die seither geschehen sind, gelehnt steht, ist einer der schon bei Anlage des Parks gepflanzten Bäume. – Das ist sicher kein aus bloßer Verlegenheit eingefügtes Bild. Ein sterblicher Mensch vor einem Baum nahezu mit Ewigkeitsanspruch. Das Bild leitet die abschließende Passage von Teil IX der Ringe des Saturn ein, eine Passage, wie sie in der Sprache der Literaturkritik obligatorisch als fulminant gefeiert wird, tatsächlich von unvergeßlicher Schönheit in der Darstellung der Vernichtung der Bäume durch Krankheit oder Sturm. Das Photo ist das einzig von den vieren, über dessen Urheber nichts mitgeteilt wird.

Austerlitz
Von Austerlitz haben wir Bilder als Kind in Prag im Kostüm des Rosenkavaliers und als Jugendlicher in Wales im Rugbydress. Ferner sehen wir ihn beim Photographieren gespiegelt in der Schaufensterscheibe des Antikos Basar. Das Konterfei ist unscharf, eine klare Ähnlichkeit mit dem Autor ist aber zu erkennen. Das ist einerseits mysteriös, andererseits aber nicht. Als fiktionale Gestalt ist Austerlitz nicht spiegelbar, der Autor mußte für ihn einspringen. Dieses zwielichtige Erscheinen ist womöglich ein wahrheitsgetreueres Bild seiner Anwesenheit in der Prosa als der in Mailand ausgestellte dokumentarische Ersatzpaß. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Als Ehefrau der Erzählers wird mehrfach eine Clara genannt, für die sich in keinem Taufregister ein Nachweis findet. Wie aber kann dann der Autor der Erzähler sein, muß nicht angenommen werden, daß es sich bei den vier Konterfeis um rote Heringe, falsche Fährten handelt?