Mittwoch, 8. November 2017

Man trifft sich

Antwerpen - Paris

Wie oft Selysses und Austerlitz einander getroffen haben, läßt sich nicht sagen, da die regelmäßigen Besuche über mehrere Jahre an Austerlitz‘ Arbeitsplatz in Bloomsbury unweit des Britischen Museums nicht beziffert sind. Ein, zwei Stunden habe man dann jeweils zusammengesessen in dem engen Büro, das einem Bücher- oder Papiermagazin glich. Hatte der Besucher sich jeweils zuvor angemeldet oder einfach angeklopft? Es wird nicht gesagt und auch die Gesprächsthemen werden verschwiegen. Sicher wurde, wie auch bei den vorausgegangenen zufälligen Treffen in Belgien, nicht über Austerlitz‘ Vergangenheit und Lebensgeschichte gesprochen. Wenn zwei einander bislang Unbekannte sich treffen, so wie Austerlitz und der Erzähler im Bahnhof Antwerpen zum ersten Mal zusammentreffen, spricht man nicht von Zufall, auch wenn vielleicht die Wege, die zu diesem Treffen geführt haben, im Nachherein erstaunen lassen. Die nachfolgenden Treffen in Lüttich, Brüssel und Seebrügge sind dagegen für jedermann leicht erkennbar von einer provokativen Zufälligkeit, für jeden erkennbar, aber nicht für Austerlitz, der die Kategorie des Zufalls augenscheinlich ganz ablehnt und stattdessen, wie er bei späterer Gelegenheit erläutert, entgegen der statistischen Wahrscheinlichkeit eine erstaunliche, geradezu zwingende innere Logik sieht.

Gesprächsthema bei den Treffen in Belgien in den sechziger Jahren sind Fragen der Architektur und Bautätigkeit, Austerlitz Lebensgeschichte wird erst bei einem zufälligen Treffen in London in den neunziger Jahren und dann bei weiteren Treffen wiederum in London und dann in Paris Gesprächsgegenstand. Wenn man in der Bautätigkeit einer Art Präludium sieht, bleibt die Frage, warum gerade dieses Motiv und nicht etwa, um ein Beispiel zu nennen, die Schönheit der Unterwasserwelt, davon hören wir dann später, beim Besuch in Andromeda Lodge. Das Architekturthema ist auch nicht in Belgien abgetan, es verschwindet nicht, die Bahnhöfe in London, Prag und Paris bleiben im Fokus, in Paris wird zudem die neue Nationalbibliothek Gegenstand einer ausführlichen Erörterung. Dabei hatte Austerlitz jegliche Bautätigkeit schon gleich zu Beginn nahezu vollständig verworfen: Die unter dem Normalmaß der domestischen Architektur sind es - die Feldhütte, die Eremitage, das Häuschen des Schrankenwärters, der Aussichtspavillon, die Kindervilla im Garten -, die wenigstens einen Abglanz des Friedens uns versprechen. Cioran ergänzt sachkundig: L’auto, l’avion et le transistor, de l’avènement de cette trinité on peut dater la disparition des dernières traces du Paradis terrestre. Dahinter steckt naturgemäß kein praktischer Bebauungs- und Ausstattungsvorschlag, sondern metaphysisches Empfinden. Der Mensch hat sich die Welt verbaut, alles, was er ins Werk setzt, so wiederum Cioran, wendet sich gegen ihn. Der Parallelsatz Sebalds lautet: Immer, wenn man gerade die schönste Zukunft sich ausmalt, geht es bereits auf die nächste Katastrophe zu. Niemand kann bestreiten, daß sich all sein Tun immer auch gegen den Menschen wendet, die Bilanz ist umstritten. Das Baugeschehen präludiert und überwölbt das gesamte Werk. Wollte man in dem Buch eine Hierarchie der Motive einführen, stände das Bauwesen obenan.

Warum diesen vielen über Jahre und Jahrzehnte verstreuten Treffen? Unentbehrlich sind nur zwei Treffen, dasjenige in den sechziger Jahren in Antwerpen für die Ausführungen zum Bauwesen und das in den neunziger Jahren in London für den Lebensbericht. Die weiteren Treffen auf der belgischen Seite führen das Motiv des Zufalls ein, die Treffen unbestimmter Fahl an Austerlitz‘ Arbeitsplatz begründen einen Grad an Vertrautheit, der den Lebensbericht erst ermöglicht. Die abschließenden Treffen in den neunziger Jahren, die Verlagerung nach Paris schließlich haben vor allem rhythmische Gründe, sie beleben die Erzählung.

Keine Kommentare: