Mittwoch, 18. März 2015

Taufregister

Ancienne paroisse

Unweit des Waldrands stand die Krummenbacher Kapelle, die so klein ist, daß mehr als ein Dutzend auf einmal darin gewiß nicht ihren Gottesdienst verrichten oder ihre Andacht üben konnten. Ich setzte mich eine Zeitlang hinein in dieses gemauerte Gehäuse. Kapellen wie die von Krummenbach gab es zahlreiche um W. herum, und vieles von dem, was ich damals in ihnen gesehen und gespürt habe, wird in mir geblieben sein, die Angst vor den dort abgebildeten Grausamkeiten nicht weniger als in seiner Unerfüllbarkeit der Wunsch nach einer Wiederholung der in ihrem Inneren herrschenden vollkommenen Stille. Fast möchte es scheinen, der Wanderer sei schon angelangt am Ziel seines Weges. Die Zeitdauer, die er in der Kapelle verbracht hat, ist nicht genauer bemessen, jedenfalls aber nimmt eine zur Stille des Ortes passende Duldsamkeit in ihm Platz, wenn er sich fragt, ob der Maler der vierzehn kleinen Kreuzwegstationen sich vielleicht in der Winterzeit desselbigen Jahres mit seiner ungeschickten Hand nicht weniger mühte als Tiepolo an seinem großen Deckengemälde. Angelangt in W., ist bei der Betrachtung der säkularen Kunstwerke des Malers Hengge von diesem Großmut nichts geblieben.
In dem sehr kurzen und sehr schönen Kapitel VIII des Livret de famille sucht der Erzähler in Biarritz zunächst die Église Saint-Joseph auf, die sich nicht als die richtige erweist. In einem petit bâtiment en face der bescheideneren Église Saint Martin erkundigt er sich bei einer dame d'une voix très douce nach einem Auszug aus dem Taufregister. Elle a recopié l'acte de baptême et m'a donné cette feuille, où l'on peut lire: Extrait de Baptême, Paroisse St Martin - Biarritz Diocèse Bayonne &c. Wenig später, à la terrasse d'un petit café, au soleil, j'ai tâté à travers l'étoffe de ma veste l'extrait de mon acte de baptême. Depuis, bien de choses avaient changé, il y avait eu bien de chagrins, mais c'était tout de même réconfortant d'avoir retrouvé son ancienne paroisse. Immer wieder versucht Modianos Erzähler sich durch amtliche Dokumente, durch Telefon- und Adressenlisten notdürftigen Halt in einer unwirklichen Welt zu verschaffen, daß er sie aber gleich dem Taufregister am Herzen trägt und die Hand darauf legt wie auf einen Talisman ganz besonderer Art, hat man sonst nicht gehört.

Selysses ist das Herzstück des bürgerlichen Seins in der Welt, der Paß, abhanden gekommen. Er nimmt das wenig ernst, zur Ausstellung eines Ersatzdokuments kommt es sozusagen zwangsweise und einen gewissen Wert gewinnt das Schriftstück für ihn erst, nachdem es sich vor seinem inneren Auge in einen Trauschein verwandelt hat. Im deutschen Konsulat zu Mailand dann fesselt die mit ihm wartende Artistenfamilie Santini den Dichter weitaus mehr als der amtliche Akt der Ausstellung eines Ersatzpaßes. Beide Dokumente, die vorläufige Bescheinigung und der Ersatzpaß, sind der Erzählung im Bild beigegeben, so als wolle der Dichter sich ihrer wieder entledigen, die amtlichen Maßnahmen gesellschaftlicher Inklusion schätzt er offenbar nur in geringem Maße.
Es war der Glockenturm von Saint-Hilaire de Combray, qui donnait à toutes les occupations, à toutes les heures, à tous les points de vue de la ville, leur figure, leur couronnement, leur consécration. Sebald, Modiano, Proust, drei Dichter, zwei von ihnen Juden, alle außerhalb der Glaubenswelt, die gleichwohl die einmalige Integrations- und Inklusionsleistung der christlichen Glaubensgemeinschaft nicht verkennen. Proust stellt ohne Umschweife den Kirchturm von Combray in den Mittelpunkt seiner Welt, Modiano verschafft der Auszug aus dem Taufregister eine eigenartige Genugtuung. Die besondere Bedeutung eines Ankerpunktes im Dasein beruht für ihn auf seiner nomadenhaft, mit ständigen Ortswechseln und Betreuungsverhältnissen quer durch Frankreich verbrachten Jugend, ohne daß er, ein zweiter Chatwin, eine Vorliebe für das Nomadenleben entwickelt hätte. Sebalds statische Jugend in W. bildet dazu einen klaren Gegensatz. Sein ihm vermutlich routinemäßig und nicht erst im Alter von fünf Jahren unter abenteuerlichen Umständen verpaßter Taufschein kann ihm keine Reliquie in den Kümmernissen des Lebens sein. Der Ambivalenz von Sorgen des Lebens und Trost des Taufscheins entspricht der von dargestellter Grausamkeit und friedvoller Stille im Inneren der Kapelle. Was könnte man Selysses als Einlage für seine Jackentasche empfehlen, daß er Hand darauf legen könnte zur Vergewisserung seines Daseins und seines Platzes in der Welt - vielleicht ein Bild der Kapelle, das er uns, anders als das seines Paßes, vorenthält.

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