Montag, 14. Oktober 2019

Zufall und Planung

Begegnungen

In Wien trifft der Erzähler keinen Menschen, mit dem er sprechen könnte, auch die Telefone schweigen, die drei bis vier Personen, mit denen er unter Umständen reden wollen, melden sich nicht. Nach seiner Weiterreise, in Italien, trifft er verschiedene Leute, Hotelpersonal, Kellner, eine Parkwächterin im Giardino Giusti &c., alles Begegnungen ohne Wiederholung und Nachspiel. Einigermaßen andauernd und detailreich ist die Begegnung mit dem Astrophysiker Malachio. Zum Abschied ruft Malachio: Ci vediamo a Gerusalemme, aber das ist naturgemäß nicht wörtlich zu nehmen. Bei der zweiten Italienreise sind diese ungeplanten, zufälligen Begegnungen reichhaltiger und denkwürdiger, Mitreisende in den Zügen, die Franziskanerin und das Mädchen in der bunten Jacke im Zug nach Mailand, die Winterkönigin bei der Heimreise. Aus dem ebenfalls ungeplanten Zusammentreffen mit der Wirtin Luciana Michelotti entwickelt sich gar ein kleiner Roman, im deutschen Konsulat begegnet der Erzähler der wundersamen Familie Santini. Zwei Treffen sind, anders als diese zufälligen Begegnungen, geplant und werden angebahnt, das Treffen mit Ernst Herbeck im Rahmen der ersten und das Treffen mit Salvatore Altamura im Rahmen der zweiten Reise. Details der Planung und Anbahnung werden aber nicht berichtet. Als der Erzähler bei dem Wohnheim eintrifft, steht Herbeck schon parat, der Zeitpunkt des Treffens wurde vermutlich telefonisch verabredet, vielleicht mit Herbeck selbst, vielleicht mit der Anstaltsleitung. Auch über die Anbahnung des Treffens mit Altamura läßt sich nur mutmaßen. Da man über die Planung nichts erfährt, unterscheiden sich die geplanten Treffen nur wenig von den zufälligen, für den Leser treten Herbeck und vor allem Altamura genauso unversehens auf den Plan wie die zufällig Begegnenden.

In den Ringen des Saturn überwiegen die geplanten Treffen, auch hier aber ohne Planungseinzelheiten. Die ganze Zeit über auf seinen Irrwegen durch das Heidelabyrinth verschweigt der Erzähler das Ziel seiner Wanderung, wir erfahren es erst, als er bereits vor Michael Hamburgers Haus steht. Der Besuch bei Alec Garrard eröffnet sich dem Leser ebenso überraschend. Auch die Beschaffung von Zeugen bei den diversen Nachforschungen in den Ausgewanderten wird kaum erläutert, Lucy Landau, um uns auf sie zu beschränken, ist plötzlich zur Stelle. In der Erzählung Aurach taucht gar der Protagonist aus dem Nichts auf. Nachdem der Erzähler auf den vorausgehenden Seiten seine Einsamkeit in Manchester mit einer mechanischen Teas Maid als einziger Begleitung geschildert hat, heißt es plötzlich, er besuche den Maler in seinem Atelier so oft, wie er glaube es verantworten zu können. Wie er die Bekanntschaft des Malers gemacht hat, wie es zu dem ersten Besuch kam, bleibt im Dunklen.

Austerlitz ist der Herr, wenn nicht der Gebieter des Zufalls, obgleich er herangewachsen ist in der florierenden Ära der Planungseuphorie als eines weiteren Versuchs, die Vernunft siegreich in Stellung zu bringen. Das ungeplante Zusammentreffen von Austerlitz und dem Erzähler im Bahnhof Antwerpen hätte, wie auch in anderen Fällen, auf eine kurze Episode beschränkt bleiben können. Die nachfolgenden Treffen in Lüttich, Brüssel und Seebrügge sind für jedermann leicht erkennbar von  provokativer Zufälligkeit, für jeden erkennbar, aber nicht für Austerlitz, der die Kategorie des Zufalls augenscheinlich ganz ablehnt und stattdessen, wie er bei späterer Gelegenheit erläutert, entgegen aller statistischen Wahrscheinlichkeit im Hintergrund der Welt eine erstaunliche, geradezu zwingende innere Logik sieht. Nach einer längeren Unterbrechung treffen Austerlitz und der Erzähler unter höchst unwahrscheinlichen und damit Austerlitz’ Theorie entsprechenden Umständen in der Bar des Great Eastern Hotels wieder aufeinander. Austerlitz scheint die Verhältnisse umzukehren, so als sei der Zufall gegenüber der Planung der zuverlässigere Weg zum Ziel, eine Annahme beruhend womöglich auf der bodenlosen, Schwindelgefühle erregende Zufälligkeit unserer aller Dasein in der Welt. Die Deklarierung der Grenze zwischen Zufall und Planung als nichtexistent, unseres Lebens als Zufällige in einer endlosen Menge von Zufälligen ist kein zufälliges, sondern ein tragendes Moment dieser Prosa.

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