Mittwoch, 2. Oktober 2019

Außenbezirke

Ausgefranst

Wenn wir vom Brüsseler Justizpalast lesen, seine ummauerte Leere sei das innerste Geheimnis der sanktionierten Gewalt, werden womöglich Erwartungen geweckt, die sich dann nicht erfüllen. Man mag sich vorstellen, wie am Morgen die sanktionsberechtigten Beamten in die in ihrer Großzügigkeit geradezu leer wirkende Hallen, Säle und Räume einströmen, um sie bis zum Abend zu besetzen. Tatsächlich aber stößt man, wie Austerlitz ausführt, auch tagsüber auf türlose Räume und Hallen, die von niemandem je zu betreten seien. Viele Stunden irrt man durch dieses steinerne Gebirge, durch Säulenwälder, an kolossalen Statuen vorbei, treppauf und treppab, ohne daß einen je ein Mensch nach seinem Begehren gefragt hätte. Die Situation ist unverkennbar kafkaesk, und so muß man hinter dem innersten Geheimnis der sanktionierten Gewalt Kafkas Rechtsphilosophie vermuten, wie sie im Prozeß und Vor dem Gesetz zum Ausdruck kommt. Diesem rechtsphilosophischen Ansatz sind Benjamin und Scholem penibel nachgegangen, ihnen wiederum Agamben unter Einbeziehung Foucaults, den der Dichter nach Kafka selbst womöglich als ersten im Auge hatte. Festgehalten werden kann, daß der Justizpalast, seiner Aufgabe entkleidet, nach allen Seiten ausfranst. In den alle Vorstellungskraft übersteigenden Verwinkelung richteten sich immer wieder in irgendwelchen leerstehenden Kammern und abgelegenen Korridoren kleine Geschäfte ein, etwa ein Tabakhandel, ein Wettbüro oder ein Getränkeausschank, und einmal soll sogar eine Herrentoilette im Souterrain von einem Menschen namens Achterbos, der sich eines Tages mit einem Tischchen und einem Zahlteller in ihrem Vorraum installierte, in eine öffentliche Bedürfnisanstalt mit Laufkundschaft von der Straße und, in der Folge, durch Einstellung eines Assistenten, der das Hantieren mit Kamm und Schere verstand, zeitweilig in einen Friseurladen umgewandelt worden sein.

Dem Dichter sind diese Übergänge vom Großen und Pompösen zum kleinen und Alltäglichen nicht fremd. Nach dem Gespräch über den Justizpalast ist Brüssel kein Treffpunkt mehr für Austerlitz und den Dichter, man trifft sich in einem Billardcafé in Terneuzen, schon jenseits der Grenze in den Niederlanden. Die Wirtin, eine Frau mit dicken Brillengläsern, strickte an einem grasgrünen Strumpf, ein Kaminfeuer aus glühenden Eierkohlen, auf dem Fußboden feuchtes Sägemehl, ein bitterer Zichoriengeruch, durch das von einem Gummibaum umrankte Panoramafenster blickte man hinaus auf die ungeheuer weite, nebelgraue Mündung der Schelde. Gelegentlich eines anderen Besuchs in Brüssel reist der Dichter weiter nach Waterloo, ein rundum enttäuschender Ausflug. Vor der Rückfahrt wärmt er sich in einer der Gaststätten ein wenig auf. Am anderen Ende der Stube saß in dem trüben, durch die belgischen Butzenscheiben einfallenden Licht eine Rentnerin, bucklig: der Einfluß der nur wenige Kilometer entfernten Stadt Brüssel mit ihren Übermaß an Buckligen und Irren macht sich auch hier geltend. Die Frau trug eine wollene Haube, einen Wintermantel aus dickem Noppenstoff und fingerlose Handschuhe. Die Bedienerin brachte ihre einen Teller mit einem großen Stück Fleisch – ohne jede Beilage? Die Alte schaute es eine Weile an, dann holte sie aus ihrer Handtasche ein scharfes Messerchen mit einem Holzgriff und begann, das Fleisch aufzuschneiden. Bei der alten Frau im Zug nach Kissingen, die mit ihrem Federmesser Schnitz um Schnitz einen Apfel zerteilt, ist die Benutzung eines eigenen Schneideinstruments ohne weiteres verständlich, hätte aber hier, in der Gaststätte in Waterloo, nicht die Bedienerin ein geeignetes Schneidemesser reichen müssen? Die ganze Situation ist seltsam und reicht ins Geisterhafte.

Ein grasgrüner Strumpf, ein scharfes Messerchen mit Holzgriff, auch wenn der Dichter für die beiden Einkehrsituationen, anders als für den Justizplast mit dem ummauerten Geheimnis der sanktionierten Gewalt, keine eigene Deutung anregt, spüren wir doch einen vagen, anscheinend allem Geschehen beigegebenen metaphysischen Hintergrund. Der Dichter kennt keine in sich bedeutungslosen Überleitungspassagen, die zum nächsten Höhepunkt führen, die kleinen Beobachtungen, Strumpf und Messerchen, verweisen in ihrem Hintergrund mit gleicher Kraft auf die gleiche Bodenlosigkeit wie der Justizpalast.

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