Freitag, 3. Januar 2020

London

Lerpwl stryd orsaf

Adroddwr, der Erzähler, fährt, wie er sagt, oft nach London hinunter, nicht etwa, um die sogenannte Atmosphäre der Metropole zu genießen, Großstadtluft zu schnuppern, wie es auch heißt, sondern immer aus einem konkreten Anlaß, etwa weil er der ortsansässigen Ärzteschaft nicht hinreichend vertraut. Aus dem Zug schaut er in die flache, fast baumlose Landschaft hinaus, auf die Schrebergartenkolonien, das Krüppelholz, das an den Böschungen wächst, den Wasserturm von Colchester, die häßliche Rückseiten der Reihenhäuser, das Gräberfeld von Manor Park, auf die immergleichen und doch fremd und unheimlich gebliebenen Ansichten, schließlich durch einen Engpaß sich windend die Einfahrt in die Liverpool Street Station. Unmittelbar nach der Ankunft meldet sich der Erzähler aus der Praxis des Ophthalmologen Zdenek Gregor in der Harley Street, anders als die Fahrt durch die Vorstädte wird der Weg durch die Stadt nicht beleuchtet. Aus dem grauen Himmel schwebten einzelne Schneeflocken herab, und wie als Kind zum Winteranfang in den Bergen erwachte der Wunsch, daß alles auf immer zuschneien möge, zuhaus das Dorf und das Tal und hier die große Stadt London. Dazu wird es nicht kommen.

Fast jedesmal, wenn der Erzähler, aus welchem Grund auch immer, in London war, hat er Austerlitz an seinem Arbeitsplatz in Bloomsbury unweit des British Museum besucht. Austerlitz ist der wahre Erkunder der Stadt. Auf seinen fortwährenden Nachtwanderungen hat er sowohl den Stadtkern als auch die Außenbezirke durcheilt, immer fort und fort, auf der Mile End und Bow Road über Stradford bis nach Chigwell und Romford hinaus, quer durch Bethnal Green und Canonbury, durch Holloway und Kentish Town, bis auf die Heide von Hampstead, südwärts über den Fluß nach Peckham und Dulwich oder nach Westen bis Richmond Park. Tatsächlich kann man in einer einzigen Nacht von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen und dabei nur einzelnen Nachtgespenstern begegnen. Es gibt immer eine Möglichkeit, die Menschenmassen zu lichten, Dunkelheit ist ein probates Mittel, wenn der Erzähler in jungen Jahren bei einbrechender Nacht in Manchester hinausging, war er wohl sogar der einzige Mensch, der damals in dieser Umgebung unterwegs gewesen ist.

Die Rückfahrt so wie die Hinfahrt. Langsam bewegt sich der Zug aus dem Bahnhof Liverpool Street hinaus. Die Häuserwüste tut sich auf, in der Entfernung drei ganz und gar eingerüstete Wohntürme, ein lichterloher Himmelsstreifen am westlichen Horizont, der Blick zurück offenbart im flach einfallenden Licht die vergoldeten Wunderbauten der City, die auf den Erzähler offenkundig keinen guten Eindruck machen, die Vorstädte treiben vorüber, die Abendschatten senken sich über Hecken und Felder. Tröstlich, in Samuel Pepys Tagebuch vom alles vernichtenden Brand in der großen Stadt London zu lesen, wenn nicht durch Kälte und Schnee, dann eben durch Feuer und Glut.

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