Lebendig tot
Das Verwunderliche beginnt bereits mit der Erzählung Beyle: 1813 unternimmt Stendhal in Begleitung von Mme Gherardi eine Reise nach Oberitalien. Von Gargnano setzen sie in einer Barke über nach Riva, auf der Kaimauer des kleinen Hafens sitzen zwei Knaben beim Würfelspiel. Beyle macht seine Begleiterin aufmerksam auf einen schweren alten Kahn mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der vor kurzer Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen eine Bahre an Land trugen. 1913 nimmt Kafka als Vertreter der Prager Versicherungsanstalt an einem Kongreß in Wien teil und reist dann weiter zu einer Kur in Riva. Er beobachtet, wie aus dem Schatten allmählich die Umrisse einer Barke mit unverständlich hohen Masten und finsteren faltigen Segeln auftaucht. Drei volle Jahre dauert es, bis die Barke, als werde sie über das Wasser getragen in den kleinen Hafen einläuft, drei Jahre bis Kafka sein Erlebnis niederschreibt. Zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen tragen ein Bahre an Land, unter einem großen, blaugemusterten Tuch ein Mensch. Es ist der Jäger Gracchus, einerseits schon seit tausendfünfhundert Jahren tot, andererseits noch unter den Lebenden, da sein Todeskahn ursprünglich seine Fahrt verfehlt hatte. Drei Jahre für die Einfahrt in den Hafen, aber nicht hundert Jahre, offenbar haben Stendhal und Kafka im Abstand von hundert Jahren gleiches erlebt, offenbar vermochte der alte Kahn, nachdem er zunächst vermutlich vom Delta des Po aus und dann Minciofluß folgend in den Gardasee gelangt war, keine größeren Fahrten mehr unternehmen. Er stagniert, dümpelt, die Zeit, die man gern mit einem Fließgewässer vergleicht, ist zum See geworden.
Das Verwunderliche beginnt bereits mit der Erzählung Beyle: 1813 unternimmt Stendhal in Begleitung von Mme Gherardi eine Reise nach Oberitalien. Von Gargnano setzen sie in einer Barke über nach Riva, auf der Kaimauer des kleinen Hafens sitzen zwei Knaben beim Würfelspiel. Beyle macht seine Begleiterin aufmerksam auf einen schweren alten Kahn mit einem im oberen Drittel geknickten Hauptmast und faltigen gelbbraunen Segeln, der vor kurzer Zeit erst angelegt hatte und von dem zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen eine Bahre an Land trugen. 1913 nimmt Kafka als Vertreter der Prager Versicherungsanstalt an einem Kongreß in Wien teil und reist dann weiter zu einer Kur in Riva. Er beobachtet, wie aus dem Schatten allmählich die Umrisse einer Barke mit unverständlich hohen Masten und finsteren faltigen Segeln auftaucht. Drei volle Jahre dauert es, bis die Barke, als werde sie über das Wasser getragen in den kleinen Hafen einläuft, drei Jahre bis Kafka sein Erlebnis niederschreibt. Zwei Männer in dunklen Röcken mit Silberknöpfen tragen ein Bahre an Land, unter einem großen, blaugemusterten Tuch ein Mensch. Es ist der Jäger Gracchus, einerseits schon seit tausendfünfhundert Jahren tot, andererseits noch unter den Lebenden, da sein Todeskahn ursprünglich seine Fahrt verfehlt hatte. Drei Jahre für die Einfahrt in den Hafen, aber nicht hundert Jahre, offenbar haben Stendhal und Kafka im Abstand von hundert Jahren gleiches erlebt, offenbar vermochte der alte Kahn, nachdem er zunächst vermutlich vom Delta des Po aus und dann Minciofluß folgend in den Gardasee gelangt war, keine größeren Fahrten mehr unternehmen. Er stagniert, dümpelt, die Zeit, die man gern mit einem Fließgewässer vergleicht, ist zum See geworden.
Vielen wird bei der Lektüre die Namensähnlichkeit von San Giorgio und Giorgio Santini auffallen, ohne allzuviel Nachdenken auszulösen, was soll auch den Heiligen mit dem Artisten verbinden. Die wenigsten werden Pisanellos Bild im Detail vor Augen haben und in dem Hut, den Santini in der Hand hat, San Giorgios cappello di paglia erkennen. Wenn Pisanellos Bild am Ende des Buches ausführlich vorgestellt wird, werden einige Santinis Hut auch schon wieder vergessen haben. Das geht nicht zu Lasten Pisanellos, der sich als Seher erweist und San Giorgio mit einer extravaganten Kopfbedeckung ausstaffiert, um hunderte von Jahren vorgreifend den Artisten Santini anzukündigen. Während Gracchus über all die Jahrhunderte hin unverändert bleibt, schlängelt Giorgio sich ähnlich Virginia Woolfs Orlando in wechselnder Gestalt bis in die Neuzeit, allerdings werden wir über die einzelnen Phasen und die verschiedenen Inkarnationen kaum unterrichtet. Bei beiden, Gracchus und Giorgio, sind der Anfang und das Ende sichtbar, richtiger das, was wir, die wir die Zukunft nicht kennen, als das Ende hinnehmen.
In Wien entläßt der Erzähler einen Schwarm lebendiger Toter in die Menge der Lebenden, Mathild Seelos, der Dorfschreiber Fürgut und eine Reihe anderer, an die er sich aus der Kinder- und Jugendzeit erinnert, obendrein den Bayernkönig Ludwig und den italienischen Dichter Dante. Der Zeitsprung aus der Gegenwart zurück zu Dante ist nicht ganz so gewaltig wie der zurück zu Gracchus oder San Giorgio, aber doch der halbe Weg.
Im Bahnhof Venedig findet der Erzähler zwei Augenpaare auf sich gerichtet, die ihn dann weiter verfolgen und schließlich zu einer panikartigen Flucht verleiten, zwei Augenpaare ohne räumlichen und zeitlichen Umfang, reine Gegenwart. Falls es die Augen der ORANIZZAZONE LUDWIG, die Augenpaare Furlans und Abels gewesen sein sollten, füllt sieben Jahre später Salvatore Altamuras Bericht die Leere aus.
Nie wenn Adroddwr mit der Bahn durch diese Londoner U-Bahnstation gefahren ist, hat er jemand ein- oder aussteigen sehen. Nun kommt er von der Straßenseite her und steht auf dem Trottoir vor dem Eingang zu der Station und brauchte, um sich die Mühe des letzten Wegstücks zu ersparen, bloß einzutreten in die dunkle Vorhalle, in der außer der sehr schwarzen, im Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen ist. Wenn draußen an den Gleisen nie jemand ein- oder aussteigt, dann wird die Prinzessin immer in der dunklen Vorhalle in ihrem Schalterhäuschen sitzen müssen. Die Zeit will einschlafen, der Augenblick wird zur Ewigkeit.
Ganz zum Schluß des Buches wagt der einen Vorgriff in die damalige Zukunft: 2013 Ende
Austerlitz hat nie eine Uhr besessen, weil aus seiner Sicht Uhren ein irreführendes Bild vom Wesen der Zeit vermitteln. Die Zeit sei die weitaus künstlichste Erfindung der Menschheit, wenn Newton meinte, die Zeit sei ein Strom wie die Themse, wo ist dann die Quelle dieses Stroms, und wo mündet er? Warum steht die Zeit an einem Ort ewig still und verrauscht an einem anderen? Die Zeit kennt kein Gleichmaß, bewegt sich vielmehr in Wirbeln, Stauungen und Einbrüchen. Die Toten sind außer der Zeit und die Sterbenden, schon ein Quantum persönlichen Unglücks kann uns abschneiden von jeder Vergangenheit und jeder Zukunft.
Die weitaus künstlichste Erfindung der Menschheit. Erzählung und Philosophie wollen die Welt einerseits verständlich machen, andererseits ihre Unverständlichkeit demonstrieren, nichts eignet sich dazu besser als die Zeit, bereits Sartre hatte, um sich von Heidegger abzuheben, die Zeit vorsichtshalber durch das Nichts ersetzt, ein nicht weniger schwer begehbares Terrain allerdings.
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