Sonntag, 5. Januar 2020

Kurzauftritte

Komparsen

In den Schwindel.Gefühlen (SG) und in den Ringen des Saturn (RS) läßt Adroddwr seine schemenhaft erkennbare Familie zurück und begibt sich auf einsame Reisen und Wanderungen, in SG Reisen in urbane Gegenden, in RS Wanderungen durch ländliches Gebiet. Die einsame Bewegung steht im Vordergrund, die Begegnung mit Menschen ist weniger gefragt. Wo Gedränge herrscht, ist eine Begegnung mit Menschen ohnehin nicht möglich. In Venedig lagert in der Bahnhofshalle hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden, da bleibt nur die Flucht. Im Gedränge am Bahnhofsbuffet einen Cappuccino zu erlangen, gleicht einer Heldentat, und für einen Augenblick war dem Erzähler zumut, als hätte er den bisher bedeutendsten Sieg meines Lebens errungen. Er hält kein einfaches Trinkgefäß in der Hand, sondern einen Pokal siegreicher Selbstbehauptung, zu Begegnungen von Mensch zu Mensch kommt es in dem feindlichen Gedränge naturgemäß nicht. In Mailand hat Adroddwr das Privileg, von der oberste Galerie des Doms aus sicher Entfernung unbelästigt herabzublicken auf die unten über das Pflaster hastenden Gestalten, bei denen es sich nichts anderes handeln konnte als um lauter Mailänder und Mailänderinnen. Eine Ausdünnung der Massen ist notwendige aber nicht unbedingt hinreichende Voraussetzung für eine Begegnungen unter Menschen. In Wien, eine bevölkerungsreiche Stadt, aber nicht ohne stille Plätze, hat der Erzähler in den zehn Tagen des Aufenthalts mit niemandem ein Wort gewechselt, außer mit Kellnern und Serviererinnen, und mit denen auch nur das nötigste, Bestellung und und Begleichung der Rechnung. Menschliche Worte hat er nur mit den Dohlen in den Anlagen vorm Rathaus ausgetauscht und mit einer weißköpfigen Amsel, die Vögel bleiben uns vor Augen, von dem Bedienpersonal haben wir kein Bild. Auch das Personal an der Hotelrezeption wird nicht augenfällig, vom Einnachten wird nicht berichtet, früh am Morgen verläßt der Erzähler unbeachtet die Unterkunft, am Abend passiert er eilig den Nachtportier und spürt dessen langen, fragenden Blick im Rücken. Für Verona wird ohne weitere Ausführungen das Einnachten in der Goldenen Taube bestätigt, das Personal an der Rezeption, auf das der Dichter eigentlich immer ein besonderes Auge hat, wird wiederum nicht beachtet. Am Ausgang des Giardino Giusti nickt ihm die Pförtnerin aus ihrem dunklen Gehäuse zu, hatte auch sie zuvor die Flugspiele des Taubenpaars beobachtet? Die Mesnerin von Sant’Anastasia, eine kummervolle und von langen Jahren des Schweigens und der Einsamkeit fast schon vergangene Frau, verschwindet, nachdem sie einem Schatten gleich durch das Kirchenschiff vor dem einzigen Besucher hergeschwankt war, wortlos in ihrem Verschlag. Zwei Frauen eingesperrt in eine enge Behausung, sie sind nicht die einzigen. Die herausragende Figur in dieser Gruppe ist die sehr schwarze Negerfrau im Schalterhäuschen der offenbar, zum Guten oder zum Schlechten, verzauberten Londoner U-Bahnstation, an der nie jemand ein- oder aussteigt. Auch von den Astrophysiker Malachio erfahren wir nicht allzuviel bis auf den Hinweis, daß er alles und nicht nur die Sterne aus der größten Entfernung sieht und mit Vorliebe den bei der Auferstehung von den Toten sich ergebenden Fragen nachgeht - nicht viel, wie gesagt, aber mehr als genug, um immer wieder über ihn nachzusinnen. Auf der zweiten Italienreise nimmt die Zahl der flüchtigen Zufallsbegegnungen deutlich zu.

In RS überwiegen die geplanten Einkehrbesuche gegenüber den zufälligen Begegnungen, aber steht uns Hamburger lebhafter vor Augen als das namenlose Mädchen im Dorfladen von Middleton, das auf die Fragen des Erzählers nur mit einem verständnislosen Kopfschütteln reagiert? Den Komparsen wurde gegenüber den Hauptdarstellern eine durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen, und tatsächlich erreicht der Dichter gerade bei den kurzen Begegnungsszenen unvergeßliche Eindrücke mit der mühelosen Leichtigkeit, wie sie Tolstoi, dem fabelhaft unangestrengten Demiurgen, eigen ist.

So wie der Dichter sich immer wieder vergewissert in Johann Peter Hebles Kalendergeschichten, ob es den Barbier von Segringen und den Schneider von Pensa noch gibt, so kommen wir immer wieder zurück auf die Gestalten, die er uns zeichnet und fragen, ob wir denn auch das richtige Bild von ihnen haben. Würde die scheue Bedienerin im Hotel Lowestoft, die dem Erzähler die schlecht aufgetaute Fischschnitte reicht, ihrerseits bei einer etwas längerer Bekanntschaft vielleicht auf gelungenere Weise auftauen? Ist es vielleicht ein Segen, wenn ein Kontakt mit der Franziskanerin und dem Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke nicht zustande kommt, hätten die beiden sich im Gespräch womöglich gründlich blamiert? Ist die maulanhängende Bedienerin in den Tiroler Stuben nicht doch ein imgrunde freundlicher und im Augenblick nur unglücklicher und daher unbeherrschter Mensch? Müßten nicht endlich ernsthafte Anstalten unternommen werden, um die sehr schwarze Negerfrau aus dem engen Schalterhäuschen der Londoner U-Bahnstation zu befreien?
Ist Luciana Michelotti zu dem Komparsen zu rechnen oder doch zu den Protagonisten? Von ihr wird immerhin eine Familiengeschichte erzählt, die Familie tritt aber nur als Familienunternehmen im Gaststättenbetrieb in Erscheinung, das könnte den vom Familienglück besessenen Tolstoi nicht zufriedenstellen. Als der Erzähler dann aber die Paßverlustbescheinigung als Trauschein wertet, ist immerhin ein Hauch von Анна Каренина spürbar.

Keine Kommentare: