Mittwoch, 22. Januar 2020

Unterwelten

Gleiten

Sollen wir glauben, daß der Erzähler an dieser U-Bahnstation in London nie jemanden hat ein- oder aussteigen sehen und daß, betritt man von der Straßenseite her den Eingang zu der Station, in der dunklen Vorhalle außer einer sehr schwarzen, im Schalterhäuschen sitzenden Negerfrau nicht ein lebendiges Wesen zu sehen ist? Ist es nicht vielmehr einfach so, daß oft nur einige wenige hier ein- oder aussteigen und demgemäß auch die Vorhalle oft recht leer ist? Sollen wir glauben, daß der Artist, den der Erzähler im Wartezimmer des deutschen Konsulats in Mailand trifft, Giorgio Santini heißt? Ist dem Erzähler nicht eher nur die Ähnlichkeit des Hutes, den der Artist in der Hand hält, mit der Kopfbedeckung des San Giorgio auf Pisanellos Bild San Giorgio con cappello di paglia aufgefallen, den Namen hat der dann selbst erdacht? Sollen wir glauben, daß den Erzähler in der Pizzeria Cadavero eine derartige Panik erfaßt, so daß er hinausstürzt auf die Straße, in einer Bar ein Taxi rufen läßt, im Hotel in aller Eile seine Sachen packt und mit dem Nachtzug nach Innsbruck flüchtet? Hat er nicht eher, weil die Atmosphäre der Gaststätte sein allgemeines Unbehagen noch steigerte, den Entschluß zur Abreise gefaßt und diesen Entschluß dann zügig aber ohne übertriebene Eile umgesetzt? Können wir irgendetwas glauben, von dem, was wir lesen?

Man kann annehmen, daß der Ablauf der in All’estero geschilderten beiden Reisen in groben Zügen der Realität entspricht und daß auch die geschilderten Erlebnisse erlebt wurden, dabei ist es letztlich gleichgültig, ob es sich um nachgezeichnete Realität oder um eine Fiktion des Realen handelt. Es scheint aber, als würde die geschilderte Realität, ihrer selbst unsicher, ständig ins Gleiten geraten. Das gilt für die U-Bahnstation, für Giorgio Santini, die Pizzeria Cadavero oder etwa auch für die Schlacht um den Cappuccino am Stehbuffet im Bahnhof, den rätselhafte Graffito-Eintrag Il cacciatore im Bahnhofspissoir Desenzano, die Metamorphose der schriftlichen Bestätigung des Paßverlusts in einen Trauschein.

Die ins Gleiten geratene Realität läßt eine weitere, untergründige Welten erahnen, weitere Melodien, den Takt zu dem Spiel gibt das einander in seinen Auftritten immer wieder ablösende Mythisches Duo bestehend aus San Giorgio und Gracchus dem Jäger. Die Szene im Konsulat läßt drei Deutungen zu: Der Artist hat einen Hut ähnlich dem San Giorgios in der Hand und heißt zufällig Giorgio Santini. Oder: Der Artist hat einen Hut ähnlich dem San Giorgios in der Hand, der Erzähler verleiht ihm daraufhin den Namen Giorgio Santini. Oder: Giorgio Santini ist die gegenwärtige Inkarnation des San Giorgio. Der Leser kann sich für eine der drei Lesarten entscheiden, muß es aber nicht. Bei einer ersten Lektüre wird er, unter leichten Schwindelgefühlen, ohnehin die realistische Lesart verfolgen, dann vielleicht zu der mythischen Lesart wechseln und schließlich die Fülle der Lesarten bestehenlassen. Ist die U-Bahnstation verhext oder nur schwach frequentiert, oder trifft beides zu? Am Brenner steigt, wie in der Londoner U-Bahn, niemand aus oder ein, die schwere Stille wird durchbrochen vom Brüllen namenloser, auf einem Abstellgleis im Dunkeln wartender Tiere, vielleicht ist auch der Fernzug auf ein Abstellgleis geraten, von einer Weiterfahrt lesen wir zumindest nichts. Erst der Aufbruch zur zweiten Italienreise läßt erkennen, daß der Erzähler jedenfalls nicht für die volle Dauer von sieben Jahren am Brenner verblieben ist.

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