Montag, 2. Juli 2012

Ferienvolk

Verkleidete Hunde und Lemurengesichter
 
Quand on observe des humains en vacances, on se demande s'ils méritent d'être sauvés.

Ohne Mitreisende wäre nicht nur die Erlebenswelt des Selysses, sondern auch Sebalds Literatur ärmer. Die Mitreisenden mögen abstoßend sein wie der Brotzeiter im Zug nach Kissingen, sie mögen sich einer ungerechten Abneigung des Selysses ausgesetzt sehen, wie die Tiroler Weiber im Bus von Innsbruck nach Schattwald, sie mögen trostreich sein wie die Mutter mit ihrem Sohn im Zug von Rovereto nach Bozen oder beglückend wie die Franziskanerin und das Mädchen im Zug nach Mailand oder gar die Winterkönigin im Zug rheinabwärts bis Bonn: die Mitreiseden sind in keinem Fall Touristen. Sie sind aus einem bestimmten, wenn auch unbekannten Grund unterwegs, meist nur für eine eher kurze Strecke, und sie haben ein Gesicht und eine Gestalt. Die Touristen dagegen sind ein gesichtsloses fremdes Volk auf dem Weg durch die Wüste, die sie selbst hervorgerufen haben. Die Schwindel.Gefühle sind das Buch der Touristen, die Ringe des Saturn, genauer der Zweite Teil, sind das Buch der Wüste, die sie hinterlassen.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren im Südosten Englands Seebäder entstanden, die den Ansprüchen der vornehmsten Londoner Kreisen gerecht wurden. Neben den Hotels errichtete man Wandelhallen und Pavillons, Kirchen und Kapellen für jede Denomination, baute eine Leihbibliothek, einen Billardsaal, ein tempelartiges Teehaus und eine Straßenbahn mit einem prunkvollen Terminus. Heute nun verbiegt Selysses als einsamer Gast im Hotel Victoria die Gabel an der legendären Fischschnitte und der jetzige Lord Somerleyton steuert eigenhändig ein Miniaturbähnchen durch die Felder, auf dem eine besichtigungserprobte Anzahl von Menschen hockt, die an verkleidete Hunde erinnerten oder an Seehunde im Zirkus – eine Bestialisierung, die über die bloße Gesichtslosigkeit der modernen Touristen noch hinausgeht.

In der wissenschaftlichen Betrachtung wird man die Reiseaktivitäten zumal der vornehmsten Kreise in vergangener Zeit unterscheiden vom Massentourismus, wie er nach dem letzten Großen Krieg aufgeblüht ist, und auch für den Dichter fallen Adelwarths Reisen als Begleiter von Cosmo Solomon nicht in die Rubrik Tourismus. Die Vergangenheit des Reisens bleibt, nach dem kurzen Blick auf die Verhältnisse in Südostengland, in der Folge von der Betrachtung ausgeschlossen.
Anders als die Hundsmenschen auf dem Bähnlein in Somerleyton gewinnt der steinalte Cicerone in der Arena zu Verona ausdrücklich Gestalt. Da er bucklig war und stark vornübergebeugt ging, reichte sein um vieles zu großes Jackett mit dem vorderen Saum bis an den Boden. Die Gruppe später Ausflügler aber, denen er mit einer dünn und brüchig gewordenen Stimme die Einzigartigkeit des Bauwerks beschrieb, zeigte sich wenig beeindruckt von seiner Architektur- und Opernbegeisterung. Ähnlich durchwandern die Besucher mit einem Ausdruck völliger Verständnislosigkeit die Säle der Nationalgalerie in London. Man stellt sich nichts anderes vor, als daß Selysses erst, nachdem der letzte Schritt verklungen ist, sich in die Betrachtung von Pisanellos San Giorgio con cappello di paglia vertieft.

Am wohlsten aber fühlt Selysses sich in jedem Fall ganz ohne konkurrierende profane Besucher, wie es ihm im Giardino Giusti oder in der Chiesa Sant’ Anastasia in Verona widerfährt. Wie oft auch in Landschaftsgemälden akzentuiert jeweils nur eine einzige menschliche Gestalt die Bildfläche, einmal die Pförtnerin, die ihm beim Verlassen des Gartens aus dem dunklen Gehäuse zunickt, und dann die Mesnerin, die ihm das schwere eisenbeschlagene Hauptportal der Kirche aufschließt und wortlos vor ihm, dem einzigen Besucher, schattengleich durch das Kirchenschiff herschwankt. Die unbeachtet im Verborgenen wirkenden Diener des Tourismus, eher seine Opfer als Mittäter, der Cicerone, die Pförtnerin, die Mesnerin, sind es, die ihm einen Rest von Menschlichkeit verleihen.

Nicht besser als der Besichtigungstourismus schneidet der Festivaltourismus ab. Nach Bregenz reist Selysses nicht als Tourist, sondern aufgrund einer Einladung zum Beiprogramm. Daß er die Einladung angenommen hat, reut ihn noch Jahre später. Die Aufführung der Oper Nabucco besucht er nicht, unter anderem, weil es ihm von Jahr zu Jahr unmöglicher wird, sich unter ein Publikum zu begeben, zumal wenn das Publikum aus Touristen besteht. Auch der Aufführung der Aida in der Veroneser Arena bleibt er, anders als die scharenweise aus den Reisebussen herausgelassenen Festspielbesucher, fern.

Schließlich ist der Blick ist zu werfen auf den gemeinen Tourismus mit den Spielarten des Erholungs- und des sogenannten Erlebnistourismus. Als Selysses in Limone gegen Mitternacht zum Hotel zurückgeht, ist auch das ganze Ferienvolk paar- und familienweise unterwegs. Eine einzige buntfarbene Menschenmasse schiebt sich wie eine Art Zug oder Prozession durch die engen Gassen des zwischen den See und die Felswand eingezwängten Orts. Lauter Lemurengesichter waren es, die verbrannt und bemalt, unkenntlich wie hinter einer Maske, über den ineinander verschlungenen Leibern schwankten. Schlimmer noch als in Limone ist es naturgemäß in Venedig. Auf seiner ersten Venedigfahrt hatte Selysses Gestalt einer neuseeländischen Lehrerin nur eine einzige Mitreisende, beim der zweiten Reise, in den Ferialmonaten, ist der Zug überfüllt mit Touristen, die er aber keines Blickes würdigt. Auch in der Bahnhofshalle lagert hingestreckt wie von schweren Krankheit ein wahres Heer von Touristen in ihren Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden. Auch draußen auf dem Vorplatz liegen ungezählte Männer und Frauen, in Gruppen, paarweise oder allein auf den Stufen und überall ringsherum. Wider Erwarten erhebt sich der eine oder andere und wandert herum zwischen den noch an der Erde liegenden Brüdern und Schwestern, als müßte er sich einüben in die Mühseligkeiten der nächsten Etappe einer endlosen Reise.

Das spezielle Grauen des Kreuzfahrttourismus erspart uns der Dichter. Als die Augen sich an das sanfte Zweilicht gewöhnten, konnte man das weiße Schiff sehen, das aus der Mitte des Sonnenfeuers hervorgekommen war und jetzt auf den Hafen von Porto zuhielt, so langsam, das man meinte, es bewege sich nicht. Knapp war sie an der Grenze zum Stillstand und rückte doch so unaufhaltsam vor wie der große Zeiger der Uhr. Das Schiff fuhr, sozusagen, entlang der Linie, die das, was wir wahrnehmen können, trennt von dem, was noch keiner gesehen hat. Vielleicht eine Stunde lag das Schiff hell leuchtend in der Finsternis, als warte sein Kapitän auf die Erlaubnis, einlaufen zu dürfen in den hinter den Calanches verborgenen Hafen. Dann, als die Sterne schon über den Bergen hervortraten, drehte es ab und fuhr so langsam, wie es gekommen war, wieder davon. Der Kapitän, auch er imgrunde nur ein Postulat, scheint einsam und allein, ein gnädiger Gott hat uns behütet vor dem Anblick der Menschen an Bord.

Ein noch nicht eingeweihter Leser der Schwindel.Gefühle wird den fortwährend reisenden Selysses wohl als Touristen sehen und ihn damit einer vom Dichter selbst tief und durchaus im Stil Bernhards verabscheuten Spezies der menschlichen Gattung zuordnen. Selysses selbst gesteht sich ein, daß er viel besser zu Hause geblieben wäre da er wie Grillparzer an nichts Gefallen findet und von allen Sehenswürdigkeiten maßlos enttäuscht ist. Zu Hause aber treffen wir Selysses nie an. In den Ringen des Saturn wandert er durch Gegenden ohne besondere Sehenswürdigkeiten, in den Schwindel.Gefühlen ist er im Grunde auf der Flucht und zum anderen sucht er bestimmte Bilder von Pisanello oder Giotto auf, die er, wie wir wissen, nicht mit den Augen eines Feriengastes betrachtet, so wenig wie der Maler Aurach, der seine Reisephobie einzig der Altarbilder Grünewalds wegen überwindet.

Was Selysses aber radikal von uns Touristen unterscheidet, sind die Bücher, die er über seine Wanderungen und Reisen schreibt, und so dämmert dem fortgeschrittenen Leser die Einsicht, daß er den eigenen Anspruch auf Reise nur durch die Ablieferung ähnlicher Bücher aufrechterhalten könnte und daß er, da ihm das naturgemäß nicht möglich ist, den Anspruch also verwirkt hat. Er müßte von Rechts wegen zuhaus bleiben und sich bis an sein Lebensende mit nichts beschäftigen als mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit. Weil aber keiner von uns wirklich still nur für sich sein kann, lösen wir, dem Zorn des Selysses trotzend, schon bald wieder einen Fahrschein und finden uns, kaum daß wir es wissen, in der Eingangshalle eines Museums, dessen Säle wir dann mit dem Ausdruck weitgehender Verständnislosigkeit durchwandern werden.
 

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