Dienstag, 5. Mai 2020

Weisen des Verschwindens

Mit Hilfe der Nacht

Gleich ob man über Neufundland fliegt oder über das von Boston bis Philadelphia reichende Lichtergewirr, über das Ruhrgebiet oder den Frankfurter Raum, es ist immer, als gäbe es keine Menschen, als gäbe es nur das, was sie geschaffen haben und worin sie sich verbergen. Man sieht die Behausungen und Produktionsstätten, man sieht die Fahrzeuge, in denen sie sitzen, aber die Menschen sieht man nicht. Und doch sind sie überall anwesend, breiten sich stündlich weiter aus und sind eingespannt in Netzwerke von einer das Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigenden Kompliziertheit. - Soweit die Erkenntnis aus der Höhe, bei Tag und bei Nacht, die Menschheit ist verschwunden und zugleich in einer beängstigend überwältigenden Weise anwesend.

Die erste Luftfahrt des Erzählers, die von Zürich nach Manchester, hatte noch keine tiefgreifenden Erkenntnisse dieser Art zum Zustand der Menschheit erbracht, eher schon die bodennahen Erkundungen am Zielort. Keine Netzwerke von einer das Vorstellungsvermögen bei weitem übersteigenden Kompliziertheit in dieser Stadt des Niedergangs, sondern überall Zeichen des Unbewohntseins, in ganzen Straßenzügen sind die Fenster und Türen vernagelt, und in ganzen Vierteln ist alles niedergerissen, so daß man weit über das derart entstandene Brachland hinwegschauen kann. Aus riesigen viktorianischen Büro- und Lagerhäusern zusammengesetzt und nach wie vor ungeheuer gewaltig wirkend, ist die Wunderstadt des letzten Jahrhunderts beinahe restlos ausgehöhlt. Im Inneren der Stadt ist, obschon bereits der Morgen graut, niemand zu sehen. Wenn die Nacht sich dann wieder herabsenkt, beginnen an verschiedenen Stellen Feuerchen zu flackern, um die als unstete Schattenfiguren Kinder herumstehen und -springen, ein Endzeitszenario, wie es in Filmen gern vorgeführt wird. Austerlitz spezialisiert sich in London ebenfalls auf Nachtwanderungen, er durcheilt sowohl den Stadtkern als auch die Außenbezirke, immer fort und fort, auf der Mile End und Bow Road über Stradford bis nach Chigwell und Romford hinaus, quer durch Bethnal Green und Canonbury, durch Holloway und Kentish Town, bis auf die Heide von Hampstead, südwärts über den Fluß nach Peckham und Dulwich oder nach Westen bis Richmond Park. Tatsächlich kann man in einer einzigen Nacht von einem Ende der riesigen Stadt ans andere gelangen und dabei nur einzelnen Nachtgespenstern begegnen. Die überwältigende Mehrzahl der Londoner liegt, wie Austerlitz im Einklang und mit den Worten Kafkas berichtet, in ihren Betten, zugedeckt und, wie sie glauben, unter sicherem Dach, in Wahrheit aber nur niedergestreckt, das Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, in jedem Fall aber unseren Blicken entzogen.

Die Höhe des Fliegens und das Dunkel der Nacht bemänteln beschwichtigend die sich weltweit immer beängstigender ausbreitenden Netzwerke der Menschen. Manchester erscheint als nahezu tote Stadt, London wie eine nur zombihaft lebendige Stadt. In gewissem Sinne überaus lebendig ist dagegen das Ferienvolk, es quillt hervor, in Italien ebenso wie in Österreich und sonstwo, füllt die engen Gassen der zwischen See und die Felswand eingezwängten Orte, lagert bei Tag und bei Nacht in Schlafsäcken auf Strohmatten oder auf dem nackten Steinboden der Bahnhöfe und Bahnhofsvorplätze. Unter der Herrschaft des Virus allerdings sind in diesen Tagen kaum Flugzeuge in der Luft, die Lagebeurteilung von oben ist unterbrochen. Durch die Gnade Gottes, so mag, so muß man es sehen, ist der Tourismus so gut wie zum Erliegen gekommen, die Menschen sitzen in ihren steinernen Burgen, die Beschäftigung allein mit dem Studium der vergangenen und der vergehenden Zeit fällt ihnen schwer.

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