Dienstag, 12. Mai 2020

Nahe den Engeln

Stillstand

Wenn der Mensch, von den Engeln kaum zu unterscheiden, ychydig is na'r angylion, wenn er also obendrein das Ebenbild Gottes ist, dann muß Gott im Gegenzug dem Menschen ähnlich sein und damit nicht ohne Mitverantwortung und Schuld an dessen Miseren. Der Mensch seinerseits erbarmt sich bald schon Gottes, entlastet ihn durch die Unterstützung der Vernunft, seit Beginn der Aufklärung zunächst der gemeinsame Spielplatz von Gott und Mensch. Wenn Gott höher ist als alle Vernunft, will der Mensch zumindest nicht beliebig weit unterhalb der Vernunft operieren, man macht sich zu zweit an die Behebung der Mängel. Die Ungeduldigen aber sehen Gott schon bald als Bremser und belastenden Störenfried bei der Umgestaltung des Menschen zum Vernunftwesen. Bei der Umgestaltung durch den Menschen allein taten sich allerdings Schwierigkeiten auf, die Artefakte der Menschen waren bald schon gezeichnet von einer bis in die letzte Einzelheit alles durchwaltenden Vernunft, der Mensch selbst scheint sich der Vernunft immer wieder zu verschließen. Das galt nicht für die Sowjetunion. In den Romanen Vera Panowas erleben wir, wie die jungen Leute beherzt ans Werk gehen. Sie unterziehen sich mit freudigem Ernst einer peniblen Selbstanalyse, um gegebenenfalls auszumerzende Reste des Burschui an sich zu entdecken und so den vernunftgeleiteten Sowjetmenschen her- und darzustellen. So wird unter anderem die Frage diskutiert, ob Kinder ihre Eltern kennen sollen. Bei angestrebter Herkunft aus sogenannter freier Liebe ist die verläßliche Zuordnung zu einem Vater ohnehin schwierig, und darüber hinaus ist es nur vernünftig, wenn das Kollektiv unterschiedslos gleicher und freier Erwachsener durch ein unterschiedsloses Kinderkollektiv ergänzt wird zu einer umfassenden säkularen Engelsschar. Man geht sorgfältig vor und trifft am ersten Diskussionsabend noch keine endgültige Entscheidung. Die Älteren, Unbelehrbaren sind in Quarantäne versetzt und werden bis zum Ende ihres Lebens auf freundliche Art nicht mehr ernstgenommen. Das betraf naturgemäß nicht alle Älteren, Lenin selbst war nicht mehr der Jüngste, seinem Tod ist im Semimentalnyj roman ein eigenes Kapitel gewidmet. Vera Panowa hat sich die Schwärmerei der jungen Leute nicht ohne Einschränkungen zu eigen gemacht, die Neugestaltung der Menschheit wird bald schon ergänzt durch eine unglücklich endende Liebesgeschichte, so wie es immer war.
Mathild Seelos erfährt die Welt zunächst unter der Leitung Gottes, der höher ist als alle Vernunft, und dann geleitet von der Vernunft des Menschen, der Gott beiseite geschoben hat. Sie war in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hatte das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten. Wir erfahren nicht, wie der Ruf Gottes an sie ergangen und wieder verklungen ist, noch wird uns das Faszinosum der Räterepublik entziffert, wir hören nur, daß sie sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand aus München nach Haus zurückgekehrt ist. Über das spätere Geistesleben während ihres lang andauernden Aufenthalts in der Welt wird vollends geschwiegen. Einen gewissen Hinweis gibt immerhin ihre hinterlassene Bibliothek, die einerseits zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein aufwies und zum anderen Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner und anderen. Wann hat sie die Bücher gelesen, Gebetsbücher als Englisches Fräulein in Regensburg, und den Bakunin dann in München? Hat sie die Bücher auch später noch gelesen, die Gebetsbücher sowohl wie die Traktate oder nur die Gebetsbücher oder aber die Traktate oder vielleicht nur die die literarische Werke und die Reiseberichte, die ebenfalls in ihrem Regal standen. Hat sie alles immer wieder gelesen oder gar nichts? Was immer sie gelesen oder nicht gelesen haben mag, nichts weist daraufhin, daß sich irgendwann neue Begeisterung für das vermeintlich gottbehütete oder für das vermeintlich menschengemachte Projekt, auch Projekt Moderne genannt, eingestellt hätte. Sieht es an anderen Stellen des Prosawerks anders aus? Weder Protagonisten noch Komparsen lassen sich für das fromme oder das weltliche Projekt ausmachen, die Katecheten Mayr und Maier taugen nicht als Gegenbeweis und der Prediger Emyr Elias steht auf verlorenem Posten, junge Leute, deren Enthusiasmus für das säkulare Projekt unerläßlich ist, fehlen ganz. Man hat die Hände in den Schoß gelegt und schaut ratlos der verborgen im Netzwerk ihrer Artefakte wuchernden Menschheit zu.

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