Mittwoch, 20. Mai 2020

Wahrheitssuche

Im Spiegel


Wenn J.M. Rymkiewicz ein Buch über Auschwitz schreiben sollte - er hat ein Buch über das Warschauer Ghetto (Titel des polnischen Originals: Umschlagplatz) und ein anderes über den Warschauer Aufstand (Titel des polnischen Originals: Kinderszenen) geschrieben, nicht aber über Auschwitz, und er würde und wird auch kein Buch über Ausschwitz schreiben, da Ausschwitz keine polnische Angelegenheit ist, und nur polnische Angelegenheiten interessieren ihn -, wenn er also ein Buch über Auschwitz schreiben sollte, müßte man damit rechnen, daß er zehn Seiten oder auch zwanzig Seiten für die Frage bereitstellt, ob die Türen des Lagers überwiegend nach innen oder überwiegend nach außen öffneten, und er würde nicht weniger als zehn Quellen auftun, die einander in diesem Punkt widersprechen. Die Sache mit den Türen ist naturgemäß willkürlich und an den Haaren herbeigezogen, richtig ist, daß Rymkiewicz gern mit äußerster Ausführlichkeit bei den leblosen unbeweglichen Dingen verharrt, beim Umschlagplatz etwa bei der Frage, welche und wie viele Gebäude auf dem Platz standen, wie sie zusammenhingen und welchem Zweck sie dienten. Die Zahl der von ihm aufgetanen, in dieser Frage sich widersprechenden Quellen ist beeindruckend. Für das Ghetto kann Rymkiewicz ähnlich genaue Skizzen und Pläne nutzen, wie sie Austerlitz für das Ghetto Theresienstadt zur Verfügung stehen, für den Umschlagplatz muß er sich mit den erstaunlich fragmentarischen und uneinheitlichen verbalen Beschreibungen begnügen. Man hat den Eindruck, die Hartnäckigkeit seiner Recherche speist sich nicht aus der Hoffnung auf Erfolg, sondern aus der Sicherheit zu scheitern, aus der Erkenntnis, daß die klare und eindeutige Gestalt des Platzes, obwohl sie unzweifelhaft bestanden hat, im Dunklen bleibt. Die Hartnäckigkeit bei der Verfolgung unerreichbarer Ziele ist Rymkiewiczs stilistisches Markenzeichen. Wenn aber schon die toten, starren Dinge nicht zu ergründen sind, wie dann das lebendige tödliche Geschehen?

Hilary, Austerlitz‘ Geschichtslehrer in Croesoswallt, ist spezialisiert auf Napoleon und seine Zeit und ganz besonders auf die Voraussetzungen und den Ablauf der Schlacht bei Austerlitz. Das ganze Terrain der Kampfhandlungen hat er vor Augen, die Chaussee von Brünn nach Olmütz, die Pratzener Anhöhen, die Dörfer Bellwitz, Skolnitz und Kobelnitz, das Feldlager der Franzosen und das der neunzigtausend Alliierten. Stunden konnte Hilary über den 2. Dezember 1805 referieren, letztlich aber mußte er einräumen, daß alles auf den knappen Satz: Die Schlacht wogte hin und her hinauslief. Dem Inneren unserer Köpfe sind vorgefertigte Bilder eingraviert, während die Wahrheit in einem unentdeckten Abseits liegt. Demnach würde Rymkiewiczs Vorgehen darin bestehen, daß er die eingravierten Bilder penibel verifiziert, ohne aber der sogenannten historischen Wahrheit näher zu kommen. Zum Lager Theresienstadt betreibt Austerlitz viele Jahre später kein eigenes Quellenstudium, sondern greift auf die Vorarbeiten H.G. Adlers zurück. Sechzigtausend Personen auf einer Fläche von kaum mehr als einem Quadratkilometer zusam- mengezwungen, Bankdirektoren und Landwirte, Sängerinnen und Hausfrauen, Menschen aus allen Ländern, zwei Mann vor eine Deichsel gespannt, vier bis acht schiebend und in die Speichen greifend, Scharlach, Diphterie und Tuberkulose, Leib und Seele schon bald verwüstet. Besonders einprägsam dann der Besuch einer Rotkreuzkommission bestehend aus zwei Dänen und einem Schweizer, die Gutachter sind angemeldet, und nichts ist wiederzuerkennen. Jetzt sieht man Rasenflächen und Spazierpfade, gut ausgestattete Ladengeschäfte, eine Leihbibliothek und eine Turnhalle, saubere Gehsteige, gutes Essen, Sportveranstaltungen, Kabarett und Theater, was das Herz nur begehrt, gespiegelt im Zerrbild der Lüge wird die Wahrheit noch am ehesten erkenntlich.

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