Montag, 29. Juni 2020

Gendergerechtigkeit

Befriedigendes Ergebnis

Wiederholt wurde dem Dichter der Vorwurf mangelnder Gendergerechtigkeit in seinen Büchern gemacht. Betrachtet man daraufhin exemplarisch den größten Familienklan im Prosawerk, die Sippe der Seelos, so findet man auf der Männerseite den Baptist, den Benedikt, den Lukas und den Peter, auf der Frauenseite die Maria, die Lena, die Regina, die Bina, die Babett und die Mathild. Vier zu sechs, ein klares weibliches Übergewicht ist festzustellen. Ein weibliches Übergewicht aber gilt gemeinhin nicht als beunruhigend. Die bloßen Zahlen sind naturgemäß allein nicht entscheidend, es kommt auch auf die Stellung, die Bedeutung, das Gewicht der Einzelnen an. Der Patriarch, das Sippenoberhaupt war fraglos der Baptist Seelos, ein Baumeister von internationalem Ruf und entsprechendem Einkommen, der aber schon in recht jungen Jahren starb. Seine Frau Maria, die ihre Tage fortan mit dem Kaffeesieden nach türkischer Art verbrachte, konnte in keiner Weise seinen Platz einnehmen, auch keins seiner Kinder war geeignet. Die Lena war in Amerika bei einem Autounfall ums Leben gekommen, den Benedikt hatte, wie der Lukas es sieht, sein Unheil aufgefressen. Den Lukas selbst trifft der Dichter, als er nach Jahrzehnten seinen Heimatort wieder besucht, als arbeitsunfähigen Invaliden an. Der Peter wurde schon früh in die Psychiatrie eingewiesen. Die Bina und die Babett haben über Jahre ein Caféhaus betrieben, das nie jemand aufgesucht hat, und haben damit sicher nicht die vakante Stelle des Baptist einnehmen können. Damit bleiben als Gegengewicht zum Baptist nur die Mathild und möglicherweise die Regina, der Regina kann man leider nicht nachgehen, weil sie in Norddeutschland verschollen ist. Sich in harter Münze auszahlende Erfolge wie der Baptist kann die Mathild nicht vorweisen, wohl aber ein nach anfänglichen Turbulenzen gradlinig verlaufendes Leben. Die Art wie sie Jahr um Jahr unter den Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Sie ist einen schönen Tod gestorben im eigenen Bett mitten in der Nacht. Die Griechengötter haben ihre Lieblinge jung sterben lassen, der alttestamentarische Gott hat ihnen ein langes Leben geschenkt.

Im Hinblick auf die Gendergerechtigkeit ergibt sich in der Endrechnung aus Zahl und Gewichtung ein befriedigendes Ergebnis, ein Stein des Anstoßes liegt nicht vor, Korrekturen an der Seelosgeschichte sind nicht notwendig. 

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