Freitag, 5. Juni 2020

Vom Hängen

Kawałki

Sieht man Pisanellos Bildwerk über dem Torbogen der vormaligen Kapelle als Momentaufnahme, so wird sich San Giorgio im nächsten Augenblick in den Sattel schwingen und in Begleitung des kalmückischen Bogenschützen sowie sechs weiterer Berittener alsbald verschwunden sein. Die Prinzessin kehrt in ihre Burg zurück, und die am Galgen baumelnden Gehenkten, die im wesentlichen nur eine dekorative, dem Bildnis eine eigene Lebendigkeit verleihende Aufgabe zu erfüllen hatten, können abgenommen werden. Jede Tragödie nimmt mit Marx‘ Worten in der vergehenden Zeit etwas Komödiantisches an. In bestimmten Fällen allerdings muß viel oder endlos Zeit vergehen, bevor dieser Effekt eintritt. Allein im Lager Jasenovac wurden siebenhunderttausend Männer, Frauen und Kinder ums Leben gebracht mit Methoden, die selbst den Fachleuten aus dem Großdeutschen Reich die Haare zu Berg stehen ließ. Sägen und Säbel, Äxte und Hämmer und eigens in Solingen zum Halsabschneiden gefertigte, an den Unterarm zu schnallende Ledermanschetten mit feststehendem Messer waren, nebst eine Art von primitiven Quergalgen, an welchem die zusammengetriebenen volksfremden Serben, Juden und Bosniaken reigenweise wie Krähen und Elstern aufgehängt wurden, die bevorzugten Hinrichtungsinstrumente.

Rymkiewicz hat ein ganzes Buch unter den Titel des Hängens (Wieszanie) gestellt. Die behandelte Zeit ist weder Pisanellos Mittelalter noch der Faschismus der Ustascha und des Großdeutschen Reiches, es geht um die Polnische Revolution des Jahres 1794, die gleichsam im großen Flußbett der Französischen Revolution der Jahre 1789 bis 1799 mitschwamm. Unbestritten hätte es ohne die französische Revolution die polnische nicht gegeben. Einerseits imitierte man die Franzosen, andererseits setzte man sich von ihnen ab. Während Frankreich zur modernen Guillotine überging, verließ man sich in Polen weiter auf den Galgen, es ist nicht klar ob aus Traditionsbewußtsein oder wegen technologischer Rückständigkeit. Aus traditionellen Gründen jedenfalls wurde zunächst auf das Hängen von Frauen verzichtet. Zu Beginn war das Hängen der rechtsstaatliche Teil des revolutionären Verlaufs, gehängt wurde nach einem entsprechenden Gerichtsurteil. Der leitende Henker in Warschau hörte auf den Namen Stefan Böhm und trug den inoffiziellen Titel Mistrz sprawiedliwości, Meister der Gerechtigkeit. Im weiteren Verlauf aber bemächtigte sich auch der zunächst auf andere Tötungsformen angewiesene Mob, die Hołota, das Pospólstwo des Galgens. In gewissem Umfang aber erholte sich das Recht schließlich wieder und verfügte seinerseits das Hängen der zahlreichen nicht amtlich bestellten Henker. Blutig sind die Geburtsstunden von Moderne und Demokratie.

Im Buch Wittgensteins Neffe unterbricht Bernhard eine längere Suada mit dem entwaffnend schlichten Eingeständnis: Ich bin einfach kein guter Mensch, für Sebald eine weitere Bestätigung seiner Verbundenheit mit dem Österreicher. Rymkiewicz äußert sich detaillierter zum Thema: Ja nalezę do ciemnej, gorszej części ludzkości, ich gehöre zum dunkleren, schlimmeren Teil der Menschheit. Ein Erzähler wäre verloren, wollte er sich selbst den Guten zurechnen. Und weiter: bei seiner Erkundung der polnischen Revolution ging es Rymkiewicz, wie er sagt, nicht um Moral, sondern um das Leben, nie moralnośc lecz życie, erwartungsfrohe Utopie und Apokalypse werden gleichermaßen vermieden. Ohne Sarkasmus als Selbstschutz wäre allerdings die Betrachtung des revolutionären Treibens kaum zu ertragen, das Morden in Warschau mit dem Ziel einer hellen Zukunft, so heißt es etwa, sei wie eine Arie Händels gewesen, Lascia que io pianga mia crude sorte, das in Krakau vergleichsweise das Fiepen einer Maus hinter den Kulissen, nachdem Marylin Horne ihren Vortrag beendet hatte. Soviel aber wird sichtbar bei aller moralischen Abstinenz: die Menschheit ist eine verworfene (potworne) Gattung. Darüber wäre ein anderes Buch zu schreiben für ein anderes Publikum, nicht für die Menschen, sondern für einen im Lesen ausgebildeten Igel (Jeż) oder Maulwurf (Kret).

So als gäbe es keine Menschen, als gäbe es nur das, was sie geschaffen haben und worin sie sich verbergen. Man sieht die Behausungen und Produktionsstätten, man sieht die Fahrzeuge, in denen sie sitzen, aber die Menschen sieht man nicht. Hier sind lebende Menschen in ihren aktuellen Siedlungen verschwunden, bei Rymkiewicz sind es seit langem tote Menschen in Städten, die weiter bestehen, die zu ihrer Zeit aber anders waren, als sie heute sind, auch wenn die Namen wie Warschau oder Krakau sich nicht geändert haben. Auch die Namen der Straßen und Plätzen sind oft noch die gleichen, die Stätten selbst aber wären für Menschen aus dem achtzehnten Jahrhindert kaum wiederzuerkennen. Die Toten leben als Schatten dessen, was von ihnen notiert wurde, ihr Erscheinungsbild ist immer widersprüchlich. Der eine hat dem zum Galgen Geführten in einem roten Mantel gesehen, der andere in einer grünen Jacke und so fort, wo der eine Stiefel sieht, sieht der andere Sandalen, je akribischer man sich der Wahrheit nähert, desto gründlicher schmilzt sie dahin. Was bleibt sind zusammengetragene Erinnerungsfetzen, Splitterhaufen von Dingen und Taten, Bruchstücke, kawałki.
Wenn man es mit einer Tiefenbohrung in der Zeit versucht, ausgehend etwa vom 3. April 1995, sind die Ergebnisse nicht geordneter als bei der Erforschung der Ebene: vor 390 Jahren wurde das Edikt von Nantes erlassen; wurde in Dublin vor 253 Jahren das Messias-Oratorium uraufgeführt; Warren Hastings vor 223 Jahren zum Gouverneur von Bengalen ernannt; vor 113 Jahren die antisemitische Liga gegründet; vor 74 Jahren das Massaker vom Amritsar; vor 50 Jahren Fall der Stadt Celle; im selben Jahr Vordringen der Roten Armee im Donautal. Immerhin ist inzwischen das Hängen weltweit als Maßnahme des Rechtswesens so gut wie verschwunden und als rechtsfreie Handlung verpönter denn je.

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