Freitag, 2. Juli 2021

Akten

Verwaist

 

Verwaltungsschreiben und Akten sind wohl nur für eine Minderheit unmittelbar faszinierend, anders mag es aussehen, wenn sie literarisch umkleidet sind. Die amtliche Paßbescheinigung des Brigadiere hält der Dichter für wert, sie uns als Photokopie vorzulegen, wir geben ihm recht. Edmund Szerucki, den Mann aus Chéruy, und sein Freund Witek stoßen in Cała jaskrawość in einer abgelegenen Waldgegend auf eine herrenlose Aktentasche mit amtlichen Schreiben, Anträge, Beschwerden, Beurteilungen, rund zehn solcher Schreiben. Witek liest vor, Edmund kommentiert sporadisch, auch wir folgen gebannt dieser ungewöhnlichen und ein wenig abwegigen Lesung. Zwei Beispiele:

*  *  *


Zawojów 27.9.1962
BEURTEILUNG

Ing. Frelkiewicz, Zenon, geb. am 4.5.1920, nahm seine Arbeit beim Landmaschinenwerk POM Zawojów am 5.7.1954 als Leitender Agronom auf. Nachdem diese Stelle gestrichen wurde er als Betriebsleiter tätig. Diese Funktion erfüllte er nur unbefriedigend. Er führte keine den Anforderungen und den Vorgaben zum Betriebsverlauf entsprechende Dokumentation und gab das Gerät ohne technisches Protokoll zur Reparatur.

In der entsprechenden Abteilung des Landmaschinenwerks POM war er als Leitender Ingenieur gleichzeitig der Vertreter des Direktors. Die mit dieser Stellung verbundenen Arbeiten konnte er nicht den Erwartungen gemäß erfüllen, die ihm anvertraute Bewirtschaftung der technischen Abteilung erledigte er auf eine chaotische Weise. Außerdem griff Frelkiewicz in die Stellenbesetzungen zugunsten von Verwandten und Bekannten ein, die über keinerlei berufliche Qualifikation oder Fertigkeiten verfügten. Zu nennen wäre etwa ein von ihm aus dem Dorf Mątewka rekrutierter Michał Rzeszutko, dessen erste Tat darin bestand, sich während der Arbeitszeit zu betrinken, um am nächsten Tag nicht bei der Arbeit zu erscheinen auf der Grundlage einer Bescheinigung des GRN Mątewka, er sei an diesem Tag mit Außenarbeiten beschäftigt, wenig einleuchtend, erschien er doch auch am Tag der heiligen Peter und Paul nicht am Arbeitsplatz, ein Hinweis, daß er, anstatt zu arbeiten, lieber an allen Feiern und Festlichkeiten in der weiteren Umgebung teilnahm. Bei einer allgemeinen Überprüfung wurde er für die Zeit von frühmorgens bis 12 Uhr mittags schlafend unter einem Baum gesichtet. Derartige Vorfälle wurden bei dem von Ing. Frelkiewicz engagierten Mitarbeitern in großer Zahl festgestellt. Aus diesem und anderem Anlaß, darunter zahlreiche Intrigen und Umtriebe, wurde Frelkiewicz auf Beschluß des Arbeiterrates und der Direktion enthauptet. Witek korrigiert seinen Lesefehler umgehend: seines Postens enthoben.


Büro des Ministerrates
Abteilung für Beschwerden und Briefe
BESCHWERDE

1960 im Sommer erhielt ich ein Schreiben des Gesundheitsministeriums, das mir einen Paßeintrag zur Ausreise nach Bulgarien aus gesundheitlichen Gründen in Aussicht stellte. Seit einigen Jahren schickte mich das Gesundheitsministerium zur Genesung dorthin, das erste Mal auf Kosten des Ministeriums und dann auf eigene Kosten.

Als ich in Bulgarien eintraf, waren die Dokumente nicht da, aber im Sanatorium kannte man mich und nahm mich herzlich in Pflege. In der Zwischenzeit hatte der Europäische Rheumatologenkongreß stattgefunden mit der Teilnahme von Professor Wasylow, die mich untersuchte und ein Heilungsprofil erstellte. Es drohte mir eine Bewegungsunfähigkeit der Hände und der Wirbelsäule. Die Krankheit wurde im Krieg chronisch erworben unter der Bezeichnung Artrecis urica. Das Gesundheitsministerium hat trotz meiner Anrufe in Warschau die Formalitäten nicht erledigt und meine Papiere nicht zugesandt. Nach zwölf Tagen mußte ich das gastfreundliche Bulgarien verlassen und in sehr schlechtem Zustand ins Heimatland zurückkehren. Nach der Rückkehr habe ich ein Informationsblatt und ein Schreiben des Sanatoriums vorgelegt, demzufolge eine Operation am Ellbogen (links und rechts) notwendig sei, ansonsten bestünde die Gefahr verstümmelter und kraftloser Hände. Die Papiere habe ich an das Gesundheitsministerium geschickt.

Seit 1960 bis zum heutigen Tag habe ich keine Antwort erhalten. Während dieser drei Jahre sind die Finger der linken Hand völlig verkümmert, ebenso der Ellbogen, so daß ich mit der Hand nicht mehr essen oder schreiben kann, diesen Brief diktiere ich. Das ist die Hilfe, die ich erhalten habe für meinen Einsatz im Zweiten Weltkrieg in den Reihen der Roten Armee und der Polnischen Wehrmacht. Obendrein soll ich die Kosten für den zwölftägigen Aufenthalt in Bulgarien erstatten.

Ich will nicht davon schreiben, daß auf Staatskosten Leute mit weitaus geringeren Erkrankungen verschickt wurden, während mir dieses Glück nicht gewährt wurde. Ich bin ein Krüppel, weil das Gesundheitsministerium die erforderliche Operation durch die bulgarischen Fachärzte nicht ermöglichte und mein Antrag während dreier Jahre nicht einmal beantwortet hat, um stattdessen die Kosten für den zwölftägigen Aufenthalt einzufordern.

Ich bitte den Premierminister höflich, mir diese Kosten zu erlassen, denn es ist nicht meine Schuld, wenn ich während der der Kriegsjahre viermal schwer verwundet wurde, eine gewisse Pflege steht mir zu. Ich bin 47 Jahre alt, und es macht mir Schwierigkeiten, die erste Etage zu erreichen. Die Arthrose, die sich in den Schützengräben einstellte, hat vor allem auch das Herz geschädigt. Ich habe eine Frau und einen kleinen Sohn und den Wunsch, das Kind großzuziehen. Vielleicht ist meine Gesundheit, die ich im Krieg verloren habe, mehr wert als diese elenden Mißverständnisse, die meiner Hoffnung nach …. Hier bricht das Schreiben ab und die Aktensammlung endet.

*  *  *

Die beiden, der Vorleser und der Zuhörer, kommentieren die Schriftstücke kaum. Es sind Gelegenheitsarbeiter mit intellektuellem Hintergrund ohne nennenswerte Aktenerfahrung, ihren Lohn erhalten sie auf die Hand. Die Schriftstücke weisen typische Merkmale der Rzeczpospolita auf, jeder weiß, was er zu denken hat und daß der andere mehr oder weniger das gleiche denkt. Schweigend erfahren sie auf eine unerwartete Weise die Welt, in der sie leben. Stachura ist Gleichgültigkeit gegenüber der politischen Situation vorgeworfen worden, und in der Tat ist das nicht sein literarisches Thema. Das heißt nicht, er sei blind und taub gewesen gegenüber den Zuständen, auch  wortlose Hinnahme kann beredt sein.

Der Richter Farrar hat im Ruhestand hat mit einem gewissen Entsetzen zurückgeschaut auf die mehr als ein halbes Jahrhundert in Anwaltskanzleien und Gerichtshöfen absolvierte Zeit. Ähnlich geht es manchem, der sein Berufsleben zwischen Aktenschränken verbracht hat. Von den polnischen Fundakten ist er gleichwohl auf geheimnisvolle Weise gefesselt und wird zum zweiten gespannten Zuhörer der Lesung. Verschiedene Aufenthalte in Polen, noch zu Lebzeiten des ihm damals völlig unbekannten Stachuras, werden lebendig, einiges tritt jetzt aus dem Hintergrund hervor und wird klarer.

Keine Kommentare: