Heller Aufenthalt am Flußufer
Der Erzähler findet im Bahnhof Venedig zwei Augenpaare auf sich gerichtet. Es kommt ihm vor, als seien ihm die beiden jungen Männer, die, wie er sich nicht nur einbildete, zu ihm herüberschauten, seit seiner Ankunft in Venedig schon mehrfach begegnet. In Verona nimmt er im tiefen Schatten der jenseitigen Hälfte der Arena zwei Gestalten wahr, bei denen es sich bei genauerem Hinsehen zweifellos um die beiden jungen Männer aus der Ferrovia Venezia handelte. Sie erhoben sich, und es dünkte ihn, als verbeugten sie sich gegeneinander, ehe sie im Dunkel des Ausgangs verschwanden.
***
Der Westen ist schön, aber ein von Tag zu Tag
stärker werdender Wille sagt mir steinhart, daß es schon reicht, daß ich mich
nicht länger von diesem Ausblick verführen lassen darf, daß ich die Augen
abwenden und vom Hügel herabsteigen muß. So soll es also sein. Nicht weit nach
Osten, weniger als einen Kilometer entfernt, gibt es eine Wohngegend. Da gibt
es Kartoffelfelder. Ich ziehe Jacke und Hose an. Ich wohne am Fluß. Etwas
oberhalb des Mittellaufs des größten Flusses im Land wohne ich. Ich habe mich
hier versteckt, weil sie mir schon zu dicht auf den Fersen sind. Nur zu gerne
würden sie mich finden, dieses Ungeziefer. Sie verfolgen mich schon seit
langem. Sie müssen sehr aufgebracht über mich sein. Für sie muß ich ein
herrlicher, kühlender Balsam sein. Sie würden mir gern etwas Böses zutun, diese
Spürhunde. Vielleicht ist es nicht so schlimm, wie ich sage, aber Vorsicht kann
nicht schaden. Sie ist auf jeden Fall gut. Das ist wie eine Massage beim
Betreten der Vulkanerde.
Ich wohne am Fluß. Ich habe mir eine Hütte aus Kornweidengarben
gebaut, ganze Stöße, schon gebunden, die ich weiter unten am Fluß gefunden
hatte. Der Sommer ist in voller Blüte. Meine Haut ist tief gebräunt, ich gehe
nur im Slip einher. Um die Hüften trage ich einen Gürtel mit einem Messer, das
ich zuvor in einem örtlichen Laden gekauft hatte, so wie auch ein Beil, viel
Salz und einige Spiele, alles in Vorbereitung auf den Aufenthalt am Fluß, ich
weiß nicht, wie lange noch. Das Salz, die Spiele und das Beil sind in der Hütte
untergebracht, in meinem Kornweidenpalast, den ich mit Blättern ausgelegt
hatte, damit es nicht von unten, von der Erde her zieht. Rund um die Hütte
hatte ich Pfähle eingerammt und einen Graben gelegt, so tief wie möglich, um
nicht von einer Herde überrannt zu werden. Das hatte mich viel Arbeit gekostet,
weil ich keinen Spaten habe, aber jetzt fühle ich mich sicherer. Gern hätte ich
einen Hund an meiner Seite gehabt. Ein Hund hätte mich zutiefst glücklich
gemacht.
Gut. Bei der Entfernung sollte ich bereits am Kartoffelfeld sein.
Ich ging die ganze Zeit durch das ufernahe Dickicht, warum hätte ich sichtbar
sein sollen, warum sollte ich mich fremden Augen zeigen, wenn ich auch ganz
normal aussah, aber warum sollte ich jemand einen Anlaß für Nebengedanken
geben. Durch das Gebüsch sehe ich im langsam einfallenden Dunkel ein Haus. Ich
bin an dem Feld angelangt. Alles ist gut. Ich habe in den Jacken- und
Hosentaschen rund fünfunddreißig Kartoffeln, die ich von den Kartoffelpflanzen
gepflückt hatte, jeweils einige von verschiedenen Pflanzen. So als sei nichts
geschehen, so machte ich es und löschte die Spuren. Als ich mich umschaute,
fiel mir die aufgewühlte Erde auf, Wildschweinspuren. Umso besser.
Alles ist gut. Ich sitze am Feuer. Das Holz fürs Feuer hatte ich
schon vorher besorgt, vor dem Westen, vor der Betrachtung des herrlichen
Sonnenuntergangs. Jetzt sitze ich an meinem kleinen Feuerchen. Mag es noch ein
wenig brennen, ein wenig einfallen. Dann lege ich die Kartoffeln in die Glut.
Die Mücken sind eine Plage. Ohne das Feuer würden sie mir alles Blut aussaugen.
Klarer Himmel über mir und der Umgebung. Zunächst konnte man keine Sterne
sehen, aber jetzt sehe ich die fernen Feuerchen, wenn ich länger hingucke. Sie
zeigen sich hier und da. Wie viele sind es? Irgendwo habe ich gelesen, es seien
hundertundfünfzig Milliarden, und die Fachleute könnten sich höchstens um den
Faktor zwei täuschen. Das bedeutet, es können auch dreihundert Milliarden sein.
Das ist ein wenig lächerlich, dieser Fehler: höchstens. Außerdem denke ich, es
müsse in diesem Buch heißen, die Fachleute könnten sich nur in einer Richtung
um den Faktor zwei täuschen, also in Richtung dreihundert. So wie es
geschrieben steht, kann ich mir ausrechnen, es seien entweder dreihundert
Milliarden oder gar keine, das ist ein wenig albern. Jetzt lege ich aber die
Kartoffeln auf die Glut. Ich schaue dahin. Wie weit weg mögen sie sein? Und was
sind das für Sterne? Es heißt, das sind ferne leichtende Sonnen, ähnlich
unserer Sonne, die vor ungefähr zwei Stunden untergegangen ist. es heißt, auch
um diese Sonnen würden Planeten kreisen. Planeten wie die Erde? Ist dort
irgendwo ein anderer Erdplanet? Gibt es dort einen ähnlichen Ort am Fluß, eine
ähnliche Hütte, eine ähnliche einfallende Nacht, ein ähnliches Feuer, ein
junger Mann beim Feuer, der in diesem Augenblick an mich denkt, wie ich an ihn,
in diesem Augenblick? Was macht er jetzt? Nimmt er mit einem Stock die
Kartoffeln aus seinem Feuer? Kratzt er sie ein wenig ab und legt sie auf die
vorbereiteten Blätter? Geht er zur Hütte, steigt über den Graben, legt die
Garben beiseite, so als ob er eine Tür zur Hütte öffnen würde, gräbt das Beil
aus und das Salz, nimmt ein wenig Salz in die Handfläche und legt den Rest des
kostbaren Salzes wieder an seinen Ort, kehrt zum Feuer zurück, in der rechten
Hand das Beil, in der linken die Prise Salz? Setzt er sich auf den zwei Tage
zuvor vom Flußufer heraufgeschleppten Stamm, schlägt das Beil vor sich in den
Boden, schüttet das Salz vorsichtig auf die Kartoffeln? Ob er sich sehnt?
Schmecken ihm die Kartoffeln gut, von denen er ungefähr sechzehn ißt, die
andern liegen weiter im Feuer in der Glut und mögen dort bleiben, für das
Frühstück, denn morgen muß er früh aufstehen, und sich zum Geflügel in einem
anderen Bezirk hinbewegen, denn er will keine Verwirrung anrichten, den leichten
Verdacht nicht wachsen lassen, so daß er den verfluchten Fuchs sucht, der das
schönste Huhn gerissen hat, oder die Ente. Sehnt er sich? Schaut er auf das
langsam erlöschende Feuer, ohne etwas zu sehen, mit einem blicklosen
Hinschauen, als wolle er durch die Flammen dringen, durch die Glut, durch das tiefe
Erdreich, als könne er nicht lassen von dem Schauen, als könne er sich an
nichts festhaken und umgekehrt, als fiele er auf die andere Seite, in einen
Trichter auf der anderen Seite des Auges, aber am Ende läuft es auf dasselbe
hinaus, weil es ihn nicht gibt? Ob er irgendwann erwacht aus diesem tiefen
Sturz? Ob er schnell aufsteht und die
Glut mit Erde überschüttet? An die zwanzig Kartoffeln müssen es noch sein am
Morgen, für ein frühes Mahl, muß man sich also schon niederlegen? Zieht er das
Beil hervor, faßt es ein wenig fester, richtet sich langsam auf der linken
Seite schlägt ihm das Messer ans Bein, steht still für einen Augenblick, alles
Beben hält inne, daß er keinen Laut verpaßt, das leise Murmeln von der
Wasserseite her. Würde er gern einen Hund haben? Würde ihn der Hund unglaublich
beglücken? Ist es schon gut? Steht er noch eine Weile da? Ist es schon gut?
Geht er zur Hütte seiner Unterkunft und schließt sie von innen mit zwei Garben,
als ob er eine Haustür schließe? Zieht er seine Jacke aus und holt den
wärmenden Sweater unter den Blättern hervor, zieht ihn an, zieht die Jacke
darüber, obwohl es noch ziemlich warm ist, aber bald wird es kalt werden? Legt
er das Beil auf der rechten Seite ab? Sehnt er sich sehr? Sehnt er sich
schrecklich?
Es ist wohl frühmorgens. Ich war ziemlich
durchfroren. Die Kälte hat mich aufgeweckt. Ich schiebe die Garben beiseite und
springe aus der Hütte und der letzte Rest Schlaf muß notgedrungen mitspringen.
Es ist ein sonniger, blendend heller Morgen. Ich blinzle mit den Augen, es ist
zu hell. Die Kälte durchläuft mich von Kopf bis Fuß. Ich ziehe mich schnell
aus und laufe zum Fluß. Das Wasser ist durchdringend kalt, aber das ist
gut. Nach dem Sprung ins Wasser kehre ich zum Ufer zurück, denn das Blut
gefriert mir in den Adern, und das Herz zieht sich zusammen. Ich schlage mit
den Armen, laufe im Kreis, springe im Kreis und zur Seite. Das ist die Erholung
von der Kälte und, wie ich denke, von allen verborgenen Schmerzen. Ein wenig
noch schwenke ich die Arme, ziehe Unterhose, Hose und Hemd an, den Gürtel mit
dem Messer. Immer noch ist mir kalt, aber bald wird es herrlich sein. Ich gehe
in die Hütte, nehme das Beil und die Decke. Ich komme heraus. Ich wickle das
Beil in die Decke, den Sweater und die Jacke und vergrabe dort meinen Müll und
mein Hab und Gut, elf Schritte entfernt von der Hütte unter einem Busch. Ich
kehre zurück zur Hütte. Stecke ein wenig Salz in die Tasche. Grabe die
Kartoffeln aus. Tue sie in den Sack. Werfe ihn über die Schulter und vorwärts.
Habe ich die Schleuder in der Tasche? Ja, in Ordnung. Unterwegs nehme ich
Steine auf. Voran.
Die Vögel singen. Mein Blut singt. Meine Beine singen. Zuvor war
nichts. Jetzt ist der Beginn der Welt. Der erste Tag der Welt. Der erste Morgen
des ersten Tages. Ich bin der erste Mensch, das erste makellose Kind dieser
Sonnenwelt. Und die Vögel singen, mein Blut singt, und die Garben. Alles singt
auf harmonische Weise. Montjoie! Ich gehe nach Südosten am Fluß entlang. Ich
war schon deutlich über das gestrige Kartoffelfeld hinaus. Die Sonne hatte
schon mein Haar getrocknet. Die Wärme verzaubert mich. Ich spüre, wie sie die
letzten kalten Wellen von der Brust und den Schultern vertreibt. Ich setze mich
nieder an der kleinen Niederung am Flußufer, offen zum langsam fließenden
Wasser. Ich setze mich nieder für das Frühstück. Der Platz ist auf meiner Seite
und ist genau richtig für das Frühstück, denn plötzlich fließt mir der
Geschmack der Kartoffeln in die Kehle. Ich setze mich also und esse.
Ich verlasse jetzt das Flußufer und gehe Richtung Südosten. Eine
Zeitlang gehe ich über den Damm Richtung Nordosten. Zwei Kilometer von hier
fließt ein Bach entlang des Deichs. Da muß es prächtige Kieselsteine für die
Zwille geben. Ich habe dort auch ein Gebäude entdeckt, etwas wie eine Mühle.
Sehr viele Vögel habe ich bemerkt. Ich bin dort vor einigen Tagen
vorbeigegangen, als ich den Ort verlassen hatte, zu dem ich auf gut Glück
gefahren war, und mich nach einer geeigneten Bleibe umsah, in Sicherheit vor
den Verfolgern. Ich sah mich sorgfältig um und fühlte, am Fluß, wo ich jetzt
hause, würde ich für längere Zeit einen geeigneten Unterschlupf finden. Herrliche
Kiesel! Großartig! Rundlich, geglättet vom Wasser. Ich stieg vom Deich herab
über den Bach, und weil beide Seiten voller Sträucher und Brennesseln bewachsen
waren, zog ich mich aus, hing mir die Hose um den Hals und stieg ins Wasser,
das an einigen Stellen bis zu den Knöcheln reichte, an anderen bis zur Taille.
Gehend und watend versuchte ich voranzukommen und gelangte schließlich an einen
idealen Ort, Kieselgrund, Goldader. Ich merkte mir diesen Ort.
Jetzt steige ich aus dem Wasser ans Ufer und ziehe die Hose wieder
an. Ich ziehe die Zwille hervor und wickle das Gummi von der Gabel ab, richte
sie und lege einen der herrlichen Steine auf das Leder. Ich schaue mich um nach
irgendeinem Ziel. Auf einem kleinen Baum auf der anderen Seite des Flüßchens
sehe ich einen Spatz, aber wozu? Möge er singen und sich freuen. Für den
Augenblick bin ich satt, später aber will ich heute noch etwas größeres
erjagen, da helfe mir das untrügliche Auge. Da oben rechts auf dem Ast, ajaja!
Ich erledigte ihn wie mit einem schnellen unsichtbaren Hieb. Der Spatz konnte
sich nicht einmal aufplustern und sitzt regungslos da, der arme Kerl. Gestern
habe ich zwei geschossen, denn eine ganze Herde hüpfte so nah um die Hütte
herum, als flögen sie direkt in die Tod, wie man sagt. Ich schoß also und
erledigte zwei mit einem Kiesel, der Rest entfloh. Ich nahm die zwei, und sie
taten mir leid, aber ich sagte mir, es dürfe mir nicht leid tun, aber nicht
deswegen, weil es ohnehin nichts mehr nutzt. Ich rupfte die beiden, briet sie und aß die halbe Portion. Bis heute noch
hatte ich ein wenig Fleisch zwischen den Zähnen, Sei’s drum. Ja. Wenn es heute
gelingt, für zwei Tage mindestens, dann verspreche ich den Spatzen ein ruhiges
Fliegen um mich herum und zusätzlich Kopf- und Handstand.
Ich bewege mich frei zwischen den Büschen und Bäumen, denn durch
sie hindurch sehe einige große Bäume in hundert Meter Entfernung, das Rauschen
des Wassers nimmt zu. Das ist sicher das große Gebäude mit der Mühle. Auf der
rechten Seite erhebt sich ein Hang mit einer hohen Böschung. Ich gehe am linken
Flußufer, gehe aber auf die andere Seite, denn auf meiner Seite erhebt sich ein
geradezu unmögliches Dickicht, und ich will keinen Lärm machen, wenn ich mich
hindurchzwänge. Ich kremple die Hosenbeine auf und gehen durchs Wasser. Hier
müssen Krebse sein. Das Wasser umspült das Ufer und die Baumwurzeln, das ist
genau das richtige für Krebse. Ich gehe noch langsamer und sehr vorsichtig,
obwohl der Lärm des Fließwassers zunimmt, aber ich denke, daß für die Hühner,
die Hunde und auch die Bewohner das Lärmen des Wassers so vertraut ist, daß sie
es nicht mehr hören und es für Stille halten. Daß es jenseits ihres
Hörvermögens ist. In diesem Fall wäre mein lautes Vordringen für sie keineswegs
übertönt vom Wasser, das sie gar nicht hören. Also bewege ich mich sehr
möglichst still voran, trotz des Rauschens, obwohl durchaus möglich ist, daß es
alles übertönt.
Da ist es. Genau gesagt zwei. Beide weiß. Ich sehe sie in ungefähr
zwanzig Meter Entfernung. Sie sind hier am Wasser. Das Rauschen muß aber wohl
alles übertönen. Was ich gedacht hatte, kann wohl nicht stimmen, aber
vorsichtig. Ich nehme die Zwille und lege den schönsten Kiesel ein. Ich gehe
sehr langsam in die Knie. Ich komme ihnen hinter den sehr gelegenen Büschen um
drei, fünf, acht und jetzt sogar um zehn Meter näher. Weiter ist der Blick frei
und für den Augenblick ist kein Weiterkommen, auf zehn Meter Entfernung aber
triffst du vielleicht nur einen Flügel oder das Hinterteil, das ist nicht
tödlich und hat ein großes Gegacker zur Folge, und ich muß erschrocken
verschwinden. Aber jetzt hat ein Huhn etwas entdeckt, einen Wurm vielleicht,
ich sehe es durch das Geäst, das andere Huhn ist jetzt auch aufmerksam geworden
und läuft zum erste, das erste flieht und zwar in meine Richtung, jetzt ist es
mir sehr nah.
Alles ist gut. Oft ist am Ende alles gut. Damit will ich nichts
sagen. Es ist einfach nur gut. Ich gehe auf dem Damm. Vorher ging ich am Fluß,
und noch vorher war ich an die dreißig Meter durchs Wasser gegangen, zum großen
Ärger für die Spürhunde. Ich gehe auf dem Damm. Jetzt kommt mir ein Mensch auf
einem Fahrrad entgegen. Das Huhn unterm Hemd schiebe ich von vorn auf den
Rücken. Warum sollte ich ihm einen Anlaß für schräge Gedanken bieten, wenn er
sieht, daß ich etwas unterm Hemd trage. Und woher kann ich wissen, daß er nicht
in eben dem Gebäude wohnt, und wenn er abends am Eßtisch sitzt, bemerkt seine
Frau den Verlust eines Huhns und sagt es ihm, und er erinnert sich, daß er auf
dem Damm so einen Schurken gesehen hat, der etwas hatte, der etwas unterm Hemd
verborgen hatte, der Hundesohn – und irgendwann sieht er mich wieder, das muß
nicht morgen oder übermorgen sein, und ich muß fliehen oder mit ihm kämpfen
oder rufen, was soll das, mein Vater hat zweitausend Hühner in unserer Farm und
jeden Tag gibt es bei uns Hühnersuppe. Jetzt ist er an mir vorbei, und ich
ziehe das Huhn wieder vom Rücken an die Brust, denn woher kann ich wissen, daß
er sich nicht umschaut, daß er mich nicht von hinten sehen will und dabei
diesen seltsamen Buckel entdeckt, und alles wäre nur noch schlimmer, woher soll
ich das wissen?
Aber wie unerwartet und blitzartig das ablief. Ich konnte nicht
einmal die Zwille aus dem Mund nehmen. Sie war im übrigen überflüssig. Das
erste mit dem Wurm ließ ich unbeachtet und stürzte mich auf das zweite, denn
ich sah, daß es unverwandt auf den Wurm im Schnabel des anderen starrte, der
vielleicht herausfallen würde, aber genug davon. Ich drehte ihm den Hals um, es
zappelte aber noch einige Minuten zwischen meinen Knien. Ich wußte aber, das
waren die Nerven, denn ich hatte einigemal gesehen, wie eine Bauersfrau einem
Huhn den Kopf abhackte, es dann auf die Erde warf, es sprang in die Höhe, gute fünfzehn
Meter weit. Die Sonne hatte schon ein Viertel der Hemisphäre durchlaufen und
brannte mir auf das Hemd. Vielleicht ziehe ich es auf und wickle die Beute
darin ein, das ist dann weniger verdächtig. Ich gehe immer noch über den Damm
nach Südosten. Der Himmel ist klar über mir, und die finden mich nicht so
schnell. Schultern habe ich wie aus Kupfer nach fünf oder sechs Tagen des
klaren Aufenthalts. Wer schützt mich? Wer behütet mich?
Heute werde ich ein sehr köstliches Mahl haben und morgen auch.
Ich sitze auf einem Baumstumpf. Auf den Knien habe ich das Huhn und rupfe es.
Die Federn lege ich gesondert auf einen Haufen. Ich wickle sie in Papier ein
und lege sie nachts unter den Kopf, um ihn ein wenig Weichheit zu offerieren,
meinem armen geplagten Kopf, obwohl es ihm im Augenblick recht gut geht, wenn
nicht gar großartig: In der Sonne ist er wie gebadet und im Wasser sorglos und
voller wachsender Liebe. In Vorbereitung für das köstliche Mittagsmahl breche
ich ein paar Zweig zum Feuermachen. Wer schützt mich? Wer behütet mich?
Langsam rückt der Nachmittag heran. Ich habe dem Huhn die
Innereien entnommen. Ich habe einen mittelgroßen Stock geschnitzt und das Huhn
draufgesetzt. Das Feuer knistert, und der Duft des gebratenen Fleisches
verbreitet sich auf das verlockendste. Schon lange hatte ich einen solchen Duft
schon nicht mehr in der Nase. Als ich über den Damm zurückging, drang mir der
typische Tabakgeruch in die Nase, eine Tabakwelle umgab mich für einige
Sekunden. Jemand mußte in der Gegend Tabak pflanzen. Schon lange hatte ich
nicht mehr geraucht. Ich hatte es einfach vergessen. Schön ist es am Abend zu
rauchen, über dies und jenes nachzudenken, oder zum Beispiel auch jetzt, wenn ich
das Huhn über dem Feuer mal nach links und mal nach rechts wende. Morgen werde
ich schnuppern und suchen.
Oh, unvergleichlich ist es, im warmen Sand unter dem Himmel zu
liegen, wenn der Hunger gestillt und der Atem ruhig ist: ruhig und gleichmäßig,
es droht keine Eile auf diesem Inselchen am Flußufer, zweimal habe ich vor dem
Abendessen den Fluß durchschwommen, und jetzt liege ich da. Unvergleichlich ist
der zärtliche Sonnengott, wenn der Hunger gestillt ist und er mich streichelt.
Unvergleichlich sind die leise murmelnden Wellen, in denen die Füße ruhen,
nirgends müssen sie hinwandern, nirgend wohin flüchten, sie müssen gar nichts.
Ich hätte vor Freude weinen können. Der freie Wille sagt, ich könne mir das
leisten. Ich wachte plötzlich auf. Ich sprang hastig auf die Beine, denn es war
ein unbeschreiblicher Lärm, ein durchdringendes Getöse dröhnte durch meine
schlafenden Ohren und durch den ruhig schlafenden Körper. In dreißig Metern
Entfernung, weniger sogar, fuhr ein Flußschiff vorbei mit Leuten, Kindern und
anderen, mit großem Geschrei, sie zeigten mit den Fingern auf mich, und ich
hörte: ein Wilder, ein Indianer. Ich stand da und wußte nicht, was ich machen
sollte, das Herz schlug mir, mehr als kräftig, ich wußte nicht, was tun, so
sehr hatte der plötzlich Lärm mich in eine Salzsäule verwandelt. Aber sie
verschwanden schon langsam, denn sie fuhren flußaufwärts, und ich fand auch zur
normalen rhythmischen Atmung zurück, das Herzflattern ging vorüber, auch die
Angst, denn als ich so unerwartet aus meiner Ruhe aufgeschreckt wurde, fuhr
mich durch den Kopf, das seien sie, sie hätten mich erwischt, und das sei das
Ende von allem.
Alles verschwand langsam in der Ferne. Ich stehe da und schaue
ihnen nach, und jetzt sehe ich erst, daß ich nackt bin, vom Kopf bis zum Fuß,
wie man sagt. Am meisten, so sehe ich es, steckte ihr Drang, ihre Lust zu
schreien dahinter. Ich mußte sehr tief geschlafen haben, um die Annäherung des
Bootes nicht gehört zu haben, daß sie mich nicht aufgeweckt hatte. Sie schrien:
ein Wilder, ein Indianer. Aber ich entsinne mich jetzt, die größte Freude hatte
sie dabei, mich hervorzurufen. Aber sie sind vorbeigefahren. Mögen sie fahren,
mögen sie weit reisen, weit entfernte Gegenden besuchen. Die Sonne neigt sich
gen Osten, zwei Stunden vielleicht noch. Ich hatte ein paar Stunden lang sehr
gut geschlafen. Jetzt werde ich schwimmen. Dann werde ich zum Kartoffelfeld.
Aber jetzt schwimme ich erst. Der freie Wille sagt mir, daß ich schwimmen kann.
Montjoie.
Ich sitze am Feuer. Vergnüge mich mit den Würfeln. Huhn ist nicht mehr da. Ich dachte, es würde noch für morgen reichen, aber ich habe heute alles verschlungen. Am Nachmittag habe ich mehr als die Hälfte gegessen, und jetzt hatte ich Schwierigkeiten, die lumpigen die fünfundzwanzig Meter vom Ufer bis zur Sandbank zu schwimmen. Dort legte ich mich in den heißen Sand, eine gottgesandte Erholung, und mir war, als könne ich am Abend nicht essen, so unermeßlich satt fühlte ich mich. Aber der Schlaf nahm mir das alles und das Schwimmen hinterließ noch eine größere Leere, denn ich schwamm lange nach den plötzlichen stürmischen Erwachen. Aber wie sie mein Anblick erschreckt hatte! Meine Nacktheit sie verstören mußte. Alle waren auf die eine Seite gelaufen, das hatte ich gesehen, drängten sich einer an den anderen. Leicht hätte einer ins Wasser fallen können, als sie sich da drängten. Dann hätte ich ins Wasser springen und zu ihm hinschwimmen müssen, denn bevor das Schiff hätte halten und ein Boot ins Wasser lassen können, wäre dieser im Wasser, ich weiß nicht, es hing davon ab, wie er schwimmen konnte, die Kleidung aber zieht sehr nach unten, die Strömung hätte ihn erfaßt, er wäre in einen Strudel geraten, er hätte nur noch um sich geschlagen, hätte Angst bekommen, hätte einmal Wasser geschluckt, ein zweites Mal, ein drittes Mal, und ich hätte nur noch einen Leichnam ans Ufer werfen können, einen Kilometer von hier entfernt oder noch mehr. Das Wetter ist für die ganze Zeit hier auf meiner Seite. Es war all die Tage sonnig und abends war es noch warm, heute auch. Wer behütet mich? Die Nacht ist schwarz und unerschöpflich. Am ersten Tag hatte ich mich sehr gefürchtet. Ich hatte ein Feuer angezündet und es gleich wieder gelöscht, als die Flammen aufloderten, so erschreckte mich die Helligkeit. Und tatsächlich war mir dann im Dunklen wohler. Ich war schon nicht mehr so leicht zu entdecken. Aber am zweiten Tag habe ich dann das Feuer schon nicht mehr gelöscht. Damit will ich nicht sagen, daß ich mich nicht fürchtete und mich jetzt nicht fürchte. Ich hatte mich ein wenig eingewöhnt, aber jetzt fürchte ich mich wieder sehr. Aber all das hier ist die Angst wert. Mit jedem Schritt und jeder Sekunde. All das ist die Angst wert. Auf jeden Fall. Ich lege ein wenig Holz aufs Feuer. Jede Bewegung ist meine letzte. Jede Bewegung mag zum Tod führen. In allem ist der Tod größer als alles, als das beste Fleisch, als der klügste Kopf, als die berühmtesten Leute und pompejanische Städte. Ich habe einen Film gesehen: Sieben Siegel. Das war ein Film über den Tod. Ein Film über ihn. Er hatte eine doppelte Gestalt, als Mann in einem dunklen Gewand, er sprach aber auch immer wieder mit einer Frauenstimme. Sein Gesicht war sehr bleich, weder männlich noch weiblich. Die Gestalt war männlich und auch die Bewegungen, aber die Stimme war weiblich. Er wurde also doppelt vorgestellt, sage ich, aber in keiner Weise menschlich, vielmehr dreifach. Zuerst schien mir das Gesicht sehr häßlich zu sein, aber dann bemerkte ich, daß es ausgesprochen ironisch war, ausgesprochen. Und dann bemerkte ich, daß alles eine Unverschämtheit war. Die größte Unverschämtheit der Welt, die ich kenne, war ihm aufgemalt, eingeprägt. Vor allem in den Augen, ganz besonders aber in den dünnen Lippen, so als hätte er Säure geschluckt. Ein Ritter, der gerade von einem Kreuzzug aus dem Heiligen Land zurückgekommen war, spielte Schach mit dem Tod, der Todesfrau, denn sie war gekommen, ihn zu vernichten, ihn in stinkende Luft zu verwandeln. Sie spielten also Schach am Meeresufer. Sie spielten nachts, zwei Nächte schon oder drei. Tagsüber ging der Ritter zum Gebet in die Kirche und zu einem Geistlichen, der eine Kapuze trug, und der Ritter erzählte ihm, daß er Schach spielt mit dem Tod und ihn besiegen will. Wie denn, fragte der Geistliche. Der Ritter sagte, mithilfe einer Kombination von Pferd und Läufer, die der Tod nicht kennt, und die er gerade dort, im Heiligen Land, erlernt hatte. Da drehte sich der Geistliche um, und der Ritter sah, daß es keineswegs ein Geistlicher war, sondern die Todesfrau mit ihrem unverschämten Gesicht. Der Ritter ging. Ging vor sich hin. Aber auf den Straßen und Wegen waren viele Menschen, die sich geißelten, die einen hinten, die anderen vorn, und die von hinten wurden gegeißelt von denen, die ihnen folgten und riesige Kreuze trugen, und der Duft von Weihrauch verbreitete sich, denn im Land wütete eine Seuche, und die Menschen fielen tot um wie die Fliegen, wie man sagt, und sie glaubten, das Geißeln sie retten. Der Ritter schaut sich das alles an. Angst zeichnete sich nicht ab in seinem Gesicht, aber eine große Spannung, eine große Vertiefung der Lage. Dann kam die Nacht und es kam der Tod, die Todesfrau, um das Schachspiel abzuschließen. Der Ritter spielte nur noch auf Zeit, auf Verlängerung. Verzögerte das Setzen der Figuren. Einmal lachte er sogar dem Tod laut entgegen, jetzt käme der endgültige Zug. Aber das war unwahrscheinlich, und man sah, daß der Ritter daran selbst nicht glaubte, und er wußte nicht, warum er das sagte. Wollte er sich Mut machen und vielleicht den Tod gar verspotten mit diesem letzten Zug? Wollte auch er einmal unverschämt sein? Der Film endet damit, daß der Tod und der Richter sowie einige Auserwählte sich bei der Hand halten, auf dem Hügel tanzen, der Tod allen Tänzern voran. Das war ein realistischer Film. Ja. Ich kann nicht sagen, daß ich mich nicht fürchtete. Für einige Zeit schaue ich nach links und nach rechts, als würde ich warten auf die Todesfrau, auf ihre Erscheinung, ihre Einladung zum letzten Schachspiel. Und weil ich nie lüge, dachte ich verzweifelt nach über das Spiel. Ich kann nicht alle Ressourcen aufrufen, wenn ich mit Pan Szwacz spiele oder gar mit Pan Pytlakowski, aber im Spiel mit der Todesfrau mobilisiere ich auch noch die letzten Ecken meines phänomenalen Kopfes, um die Tore der Unsterblichkeit zu finden, um diese verlorenen Tore zu aufzufinden. Als ich fünfzehn Jahre alt war, sagten die Jungens: Wenn du so ein Tarzan bist, dann geh doch mal auf den Russenfriedhof um zwölf Uhr in der Nacht. Zu viert gingen wir zum Friedhof, die anderen blieben stehen am Tor, ich sprang über die Mauer und ging langsam über die Friedhofsallee mit ihren furchterregend großen alten Bäumen. Ich war vielleicht fünfzehn Mater gegangen, als ich auf der linken Seite ein unterdrücktes Geflüster aus den Gräbern hörte. Ich machte kehrt und lief so schnell ich konnte zur Mauer, die ich übersprang, ohne sie mit den Händen oder Füßen zu berühren und haute ab mit den anderen drei wie der Wirbelwind. Erst nach einigen Monaten fand sich die Erklärung für das Geflüster, als nämlich Polizei und Militär den Friedhof umzingelten, denn man hatte dort zwei bewaffnete Banditen entdeckt, die Überfälle verübten und sogar einen Priester ermordet hatten. Das Herz gefror mir, gut nur, daß mir zuvor nicht die Beine erfroren waren. Einige Zeit später ging ich allein auf den Russenfriedhof. Am Tag. Ich versuchte, über die Mauer zu springen, ohne sie mit den Händen zu berühren, ohne mich irgendwo abzustützen, aber es kam nicht zum Sprung. Zuvor hatte mich die schreckliche Angst in die Höhe geschleudert, als sei ich ein Känguruh. Ich lege nichts mehr aufs Feuer. Möge es ausbrennen. Ich denke noch ein wenig über den Tod nach und gehe schlafen.
…………
Wieder sitze ich in meiner Behausung am Fluß. Die
Sonne war schon untergegangen. Ich schaute nach dem Sonnenuntergang zu. Der
freie Wille sagte mir, ich könne mich umschauen, denn zuvor hatte ich meine
Behausung verstärkt: Bolzen eingehauen, so daß die Garben von zwei Seiten aus
verstärkt sind und der Wind mir das Haus nicht wegbläst, es nicht in die Luft
schleudert, es nicht dem Erdboden gleich macht. Das Zentrum hatte ich
freigelegt und gesäubert, um dort die im Ort beschafften Vorräte zu lagern. Ich
schaffte auch einige Garben für das Feuer herbei. Ich stellte sie zunächst rund
um die Behausung ab. Ich nehme an, sie sind noch für eine längere Zeit
verwendbar. Dann bin ich lange geschwommen, und dann schaute ich dem
Sonnenuntergang zu, diesem beunruhigenden Feuerzeichen. Dann legte ich das
Feuer an, die Zwiebeln wurden mit Speck gebraten und mit Brot verzehrt. Jetzt
sitze ich am Feuer und rauche eine Zigarette. Seit drei Tagen ist der Mond am
Himmel, ein Viertelmond. Er ist noch nicht da, wird sich aber bald zeigen. Im
Fluß springen die Fische. Es ist sehr schwül. Das Wasser war heute so warm wie
in einem im Schilf versteckten Weiher, nicht aber in einem Fließgewässer. Es
ist klar, daß es zu lange gut war. Das muß alles platzen. Der blaue Himmel muß
mit einem großen Knall explodieren. Als ich an der Mühle vorbeiging, krähten
laut die Hähne, obwohl es Nachmittag war und nicht der frühe Morgen. Ich kann
nur mir viel durchgehen lassen. Zu viel wäre gut. Ich weiß, das wäre wunderbar.
Für mich weiß ich das genau. Ich sitze da und rauche eine Zigarette. Und denke
nach. Ich denke so, als seien es Bogenschüsse: wenn ich sterben würde, würde
der andere nicht vor Schmerz aufschreien, sich verfluchen, daß er lebe, er
würde auf eine schreckliche und dunkle Art schweigen, der auch nicht, und der
nicht und auch er nicht, der große Poet. Der Mond kommt entgegen, der
Viertelmond. Ich schaue nach oben und suche die Sterne. Und suche ihn. Bist du
dort, Junge? Was machst du in diesem Augenblick? Was denkst du, Junge, nach wem
sehnst du dich in diesem Augenblick? Sie sind böse, Junge, aber ihre Worte sind
bunt. Ihre Taten heimtückisch, mein Lieber. Die Herzen voller Eigensucht.
* * *
Man weiß nicht, wieviel es sind, die ihn jagen, auch hier vielleicht nur zwei Augenpaare, obwohl es so klingt, als seien es mehr. Aus welchem Grund sie ihn jagen, wird nicht gesagt, daß sie ihn wirklich jagen, ist nicht gesichert. Was wollen sie von ihm, was hat er ihnen getan? Ergänzet und als Ausgleich erscheint als Wunschfigur ein Doppelgänger des Erzählers in den Fernen des Alls.
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