Dienstag, 6. Juli 2021

Nocna jazda pociągiem

Nachtfahrt 


Aufgewacht bin ich erst mit dem Gefühl, daß der Zug, der sich so lang mit gleichmäßiger Geschwindigkeit durch die Täler gewunden hatte, nun aus dem Gebirge heraus- und in die Ebene hinunterstürzte. Ich riß das Fenster herab. Krachend schlugen mir die Nebelfetzen entgegen. Wir befanden uns auf einer halsbrecherischen Fahrt. Bläulichschwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran. Ich beugte mich hinaus und suchte vergebens ihre Gipfel.

 ***

Ich saß in einem Zug. Ich fuhr nicht, weil ich irgendwo hin wollte und auch nicht, weil ich etwas zu erledigen hatte an einem anderen Ort, ich hatte auch keinen Brief erhalten, daß mich jemand gastfreundlich erwarte in den Ferien: irgendeine Seele. Mich hatte noch niemand entdeckt. An der Kasse hatte ich eine Einlaßkarte gekauft, um auf den Bahnsteig zu kommen, ich wollte mich nicht für ein paar Groschen um eine andere Möglichkeit bemühen, etwa um den Bahnhof herumgehen, um von der anderen Seite her auf den Bahnsteig zu gelangen. Denn da gab es einen Übergang. Zwei Gitterstäbe waren umgebogen. In der Frühe kamen die Leute von da, um den Arbeiterzug zu erreichen. Bei meiner Ankunft hatte ich selbst diesen Weg genutzt, als ich vor ein paar Tagen hier ausgestiegen war, zum ersten Mal an diesem Ort. Ich fuhr ohne Fahrschein, aber kein Schaffner belästigte mich. Bis zum Morgen war es nicht mehr weit. Hinter dem Fenster wurde es schon heller. Warm war es im Zug, und bis zum Morgen konnte ich weiterfahren. Ich stieg aber aus, warum weiß ich nicht. Es war eine große Stadt. Das war erst einige Tage her, wie bereits gesagt.  

Der Zug fuhr ein. Er kam aus der gleichen Richtung, wie vor ein paar Tagen, als ich ankam, aber in die gleiche Richtung. Was war, das war. Dasselbe wird sich nicht noch einmal ergeben. Es kommt nicht zurück. Es kann besser oder schlechter werden. Eher schlechter. Ich will so reden und achtgeben, denn die Hoffnung könnte mich ein wenig schwächen, irreführen. Hoffnung ist nicht gut. Glaube ist gut. Das beste. Persönlich glaube ich endlos. Aus aller Tiefe heraus. Ich glaube, daß mich irgendwann jemand erkennt, mein gutes Herz, meine Sprache, nichts Doppelzüngiges daran. Irgend jemand wird mich irgendwann richtig einschätzen: als einfachen Menschen. Immer habe ich daran geglaubt. Von Anfang an.

Der Zug legte zu und machte jetzt fünfzig, fünfundsechzig km/h. Ich merkte das an den ratternden Gleisgeräuschen. Das ist ziemlich leicht, wenn man das Gehör ein wenig geschult hat. Der Zug war voll von Fahrgästen, und ich rede so, als ob ich allein wäre. Allein wäre ich nicht gern gewesen. Nicht, weil ich mich einsam und verloren fühlen würde. Ganz und gar nicht. Sicher nicht. Ich fühle mich sehr wohl, wenn ich allein bin. Jemandem, der in mein Abteil tritt, sage ich sofort, er möge sich nicht ärgern, wenn ich für eine Weile fortgehe. Wenn ich sage, ich wäre nicht gern allein im Zug, dann weil der Schaffner schon bald nach meiner Fahrkarte fragen würde. So aber, im Gedränge, gibt es immer eine Möglichkeit, ihn loszuwerden. Und es ist warm in der Menge. Durch das Gedränge. Durch die Nähe. Indem er atmet, wärmt einer den anderen. Mag sein, wenn sie wüßten, daß sie einander Gutes tun, würden sie lieber nicht atmen, wenn es möglich wäre oder, wenn das nicht möglich ist, dann Eisluft aus ihren Eisbechern.

Ich fuhr in der Mitte des mittleren Waggons. Ich hatte mich so eingerichtet, daß ich für einige Zeit Ruhe hatte, oder jedenfalls nur eine leichte Anspannung. Die Schaffner machen es meistens so, daß einer in den vordersten und einer in den hintersten Waggon einsteigt, um dann von beiden Seiten her zur Mitte vorzudringen. Leider, leider aber nicht immer. Natürlich klar, daß nicht immer. Ich will darüber nicht streiten, aber ich weiß, daß nicht immer. Manchmal fangen sie in der Mitte an, und der eine geht nach vorn und der andere nach hinten. Ich weiß das, weiß es. Wenn der Zug nicht voll ist, machen einige gar nichts oder schauen allenfalls in der Ersten Klasse nach oder setzen sich in ein reserviertes Abteil, bis es dunkel wird, und wenn eine Station kommt, steigen sie aus und rufen laut den Namen der Station, damit die Leute nicht glauben, der Zug führe ohne Schaffner, ohne Herrscher. Ich hatte also gesehen, daß sie an den Enden anfingen, denn der Zug begann seine Fahrt in eben dieser Stadt. Die recht groß war, siebzig Kirchen, sagte mir jemand, zwei Marktplätze: ein großer und ein kleiner. Der Zug wurde schon eine halbe Stunde vor Abfahrt bereitgestellt, aber es warteten auch schon viele Leute auf dem Bahnsteig, so daß man schnell hineinspringen und einen Platz belegen mußte, manche auch gleich für zwei. Ich sprang aber als erster hinein. Ich ging in die Erste Klasse und setzte mich an ein Fenster, die Zeit vor der Abfahrt zu nutzen, um auszuruhen. Dann, kurz vor der Abfahrt, verließ ich die Erste Klasse und suchte die Zweite auf, mehr oder weniger in der Mitte des Zuges, irgendwie preßte ich mich durch und öffnete das Fenster zum Bahnsteig, schaute vorgeblich gleichgültig vor mich hin, in Wahrheit aber hielt ich Ausschau nach den Schaffnern. Ich sah also, daß sie an den Enden, vorne und hinten, anfangen würden, so daß ich gut untergebracht war, mindestens bis zum ersten Halt, vielleicht sogar bis zum zweiten, mehr aber wohl nicht, denn zu Anfang beeilen sich die Schaffner eher, und erst, wenn der Zug sein Ziel fast erreicht hat, kontrollieren sie praktisch gar nicht mehr. Gott mit ihnen.

Ich erinnere mich immer an das Gedränge. Das war stark. Die Leute waren zusammengezwängt. Auf den Korridoren war das größte Gedränge, und jeden Augenblick quetschte sich jemand hindurch, der noch keinen Platz gefunden hatte. Mag sein, sie träumten alle von einem Sitzplatz, wenn sie in die Abteile schauten, irgendein freier Platz, der sich finden würde, sie entschuldigten sich, die Leute verfluchten sie insgeheim, sie entschuldigten sich höflich und schließlich blieben sie vor der Toilette stehen, der schlimmsten Ecke, und jetzt verfluchten sie insgeheim die, die sich entschuldigten, weil sie zur Toilette wollten. Ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Ich war in der Mitte des Waggons mehr oder weniger. Im größten Gedränge. Ich stand an die Tür des Abteils gelehnt. Rauchte eine Zigarette. Hatte aber ein Gefühl der Sicherheit, so wie das Gedränge war, die Spannung ließ nach, Kopf und Beine beruhigten sich.

Oh, es ist nicht diese schöne bodenlose Ruhe, wenn man nichts spürt, keinen Schmerz, keine Nervosität, nichts, nur die Erde spürt man, das Gras unter den Füßen. Oh ja. Ich spreche darüber, weil ich mich erinnere, daß ein gewisser Pan Gralewski mir diesen Unterschied erklärt hat. Zum Beispiel wie man geht: Gehen im Paßgang, normales Gehen, Schaukelgang, elastisches Gehen. Oder wie man ißt: Verschlingen, Schlucken, normales Essen, Festmahl. Oder auch zum Beispiel, wie man schläft: Alptraum, normales Schlafen, unterbrochenes Schlafen. Fast überall gibt es diese Unterschiede. Kategorien.

Fortwährend denke ich an das Gedränge. Eine Frau vom Dorf mit einer Art Rucksack drängte sich hindurch. Sie war korpulent und eingehüllt in verschiedene Schals und Westen. Das war seltsam, denn alle sonst hatten ihren Platz gefunden. Der Zug fuhr schon seit einer halben Stunde. Aber sie bewegte sich noch von Ort zu Ort. Dabei drängte sie nichts, keine Panik, kein innerer Sturm. Wortlos zwängte sie sich durch die eng stehenden Menschen, entschuldigte sich nicht, und sie hatte recht, sie hatte recht, denn die Menschen verfluchten sie so oder so, das spürte man in der Luft, daß alle sie verfluchten. Sie aber nic, nichts. Sie drängte sich schnaubend voran, und eine Stelle ungefähr drei Schritte von mir entfernt mußte ihr wohl zugesagt haben, den sie nahm ihren Rucksack ab, ließ ihn fallen und setzte sich darauf. Ich hörte, wie jemand fragte: Ist das nun der rechte Platz? Sie antwortete: Vielleicht gut oder auch nicht gut. Niemand sagte noch etwas. So ist das in Zügen, zunächst spricht niemand. Dann erst kommt ein Gespräch auf: Haben Sie vielleicht Streichhölzer?/ Bitte sehr./ Fahren Sie weit?/ Bis zum Ende, und Sie?/ Auch bis zum Ende./ Wirklich? Fein.  - Nicht immer, nicht immer. Einige legen gleich los, dann werden die Worte immer knapper und versiegen in einem monotonen Schweigen.

Vielleicht war das der Augenblick, als die ersten wieder in monotones Schweigen verfielen und die anderen noch nicht angefangen hatte. Deswegen war so gut wie nichts zu hören. Deswegen war es still. Ich war der allerstillste. Versuchte mit niemandem ein Gespräch anzufangen. Man würde mich von zwei Seiten her in die Zange nehmen, und schon säße ich in der Falle. Notiert, bewiesen, und schon wäre ich der Dumme. Man würde mir mit Verachtung oder mit Mitleid begegnen. Oder noch schlimmer, der Schaffner nähme mich beiseite, ein paar Scheinchen in die Pfote, nein, nein. Das will ich nicht. Besser ich lasse mich auf kein Gespräch ein, und wenn es jemand versucht, bremse ich nach Möglichkeit. Ich sage ja oder nein, der Gesichtsausdruck ohne Gesprächslust, bis er es einsieht und seinen Monolog abbricht. Und ich begebe mich dann anderswo hin, denn schon diese wenigen Worte haben mich an ihn gebunden, und wenn sie mich fassen, müßte ich mich schämen für diese paar dummen Worte. Aber auch in Monotonie darf ich nicht verfallen, denn sie könnte mich meiner Wachsamkeit berauben, mit klebrigen Händen ersticken. Aus Honig oder aus Wein ergibt sich eine ähnlich trügerische Schwere. Sie könnten kommen und mich schnappen. Die ersten würden sich sofort einmischen, müßten nicht erst nach Streichhölzern fragen. Nur so: Wie, was. Reist ohne Fahrkarte. Will umsonst auf Staatskosten reisen. Die anderen, die Monotonen, würden auch ein wenig aufleben. Ganz allgemein gesagt, würde es alle ein wenig auseinanderreißen.

Aber bislang ist es nicht eingetreten, bislang jedenfalls nicht. Das Gedränge ist unwiderlegbar, will heißen, alle sind bedrängt, so sagt man und das sage ich auch. Der Zug bremste, denn er fuhr in eine Station ein, und ich hätte gerne gefragt, wo die Menschen mit ihren Körpern und ihren Gepäck unterkommen sollen, denn sicher wollen mehr ein- als aussteigen. So ist es immer. Im weiteren Leben genauso. In der weiteren Lebensreise. An das Gedränge denke ich nicht. Daß irgendein Schaffner sich hindurchzwängen wollte. Der es sehr stark wollte. Sicher hatten sie sich ausgeklinkt in die Erste Klasse oder ein reserviertes Abteil aufgeschlossen und pennen dort, bis es dunkel wird. Jetzt aber springt einer hinaus, denn wir sind in der Station angelangt, wie ich schon gesagt habe, und er wird mit voller Lautstärke den Namen der Station hinausschreien, damit niemand meint, es gebe keinen Schaffner, keinen Herrn über ihm. So jemand ist noch nicht geboren. Ich bin unabhängig. Ich kann nicht von irgend jemanden abhängig sein.

Der Zug kam zu Stehen und ich hörte sofort die sehr laute Stimme des Schaffners, wie er den Namen der Station hinausschrie. Der Ruf kam, so schien es, von recht weit, mindestens zwei Waggons entfernt, so daß ich einigermaßen in Sicherheit war. So hörte ich es. Dann hörte ich aus der gleichen Entfernung: Platznehmen, platznehmen – die gleiche Stimme des Schaffners, sehr gut zu hören, denn der Zug wird sich nicht umsehen nach den Leuten, er darf sich nicht verspäten, er hat vorgeschriebene Stunden und Minuten. Noch einmal tönte es: Platznehmen, und dann: Abfahrt, denn es war kalt auf dem Bahnhof, der Winter hatte schon spürbar begonnen, auch wenn noch kein Schnee lag und nicht fallen wollte. Und das war schlimmer. Den würde Schnee fallen, dann wäre es besser. Er würde die Kälte aus dem gefrorenen Boden besänftigen. So aber, ohne Schnee, ist es kalt von unten und von oben. Vom Himmel herab und aus der Hölle. Schnee ist wunderschön. Was ist überhaupt ein Winter ohne Schnee? Und was ist ein Sommer ohne Sonnenschein? Ich möchte das fragen. Was sind das für unklare Jahreszeiten?

Wir fuhren. Der Zug nahm Fahrt auf. Oh ja, Schnee ist über die Maßen schön. Ich liebe den Schnee, verehre ihn. Wie er fällt. Das ist für mich immer eine große herabrieselnde Freude. Ich gehe und hebe das Gesicht zum Himmel, hebe die Arme hoch, Flocken fallen auf sie und verwandeln sich sogleich in Wasser, in Tränen verwandeln sie sich, in ein Weinen, denn man darf sie nicht anfassen, es sind makellos weiße Dziewice, Mädchen. Deshalb stecke ich die Hände schnell in die Taschen, daß sie keine Gewalt anwenden, und nicht etwa deswegen, daß sie kalt würden. Das ist für andere vielleicht unverständlich, ging mir durch den Sinn. Auf ähnliche Art  fuhr ich im Zug. Ich fuhr, weil ich nicht wußte wohin, und nicht, weil ich an einem anderen Ort etwas zu erledigen hätte, oder weil ich einen Brief erhalten hätte, daß jemand dort gastfreundlich auf mich wartet in den Ferien: eine Seele. Nein. Noch hat mich niemand entdeckt. Einige Leute, die auf dem Bahnsteig gestanden hatten, näherten sich dem Waggon, drängten aber nicht weiter hinein, als sie die Lage sahen. An den Türen verharrten sie. Ich weiß nicht. Vielleicht nahmen sie Vorlieb mit dem Durchgang zwischen den Waggons. Eine Art Ziehharmonika. Da erfaßte sie der Wind von oben und von unten und von der Seite her. Von allen durchlöcherten Seiten.

Der Zug legte zu und erreichte jetzt fünfzig bis fünfundsechzig km/h. Ab und zu pfeift er oder heult wie ein Schiff und es war alles, alles gut, sage ich. Ich erlaubte mir  eine Zigarette. Ich erlaubte mir auch, umherzuschauen. Ein wenig aufmerksamer. Zuvor hatte ich auch umhergeschaut, erlaubte mir aber nicht Blicke aufzufangen, Begegnungen meiner Blicke mit anderen Blicken, den Blick einige Sekunden oder eine Sekunde anzuhalten. Zuvor hatte ich völlig unpersönlich geschaut. Wie ein Leerzeichen. Denn ich wollte keine anderen Blicke auf mich ziehen. Sollten sie mich erwischen, sollte etwas mit mir geschehen, dann würde ich mich sicher an diesen Blick erinnern, und sollten sie mich wirklich erwischen, dann würde mich ein dummes Schamgefühl ergreifen, denn ich würde mich an diesen Blick erinnern. Aber weil ich mit niemandem Worte gewechselt hatte, niemandes Blick getroffen hatte, dann mögen sie mich erwischen, das würde kein dummes Schamgefühl hervorrufen, denn ich wäre niemandem nahegekommen. Mögen sie ihren Spaß haben, für mich existieren sie nicht, spielen keine Rolle für mich. Das mag für andere unverständlich sein. Ich nehme das nur an.

Aber angesichts des überall herrschenden Gedränges, erlaubte ich mit einige Blicke in die Runde. Ich rauchte eine Zigarette, schaute nach links und nach rechts und ging dem Blickwechsel nicht besonders aus dem Weg. Wir fuhren wohl schon knapp eine Stunde, aber das war immer noch der Beginn der Reise, frühe Jugend gleichsam. Das spiegelte sich in den Blicken links und rechts. Die Blicke waren noch frisch, voller Lebensfreude, noch war niemand erschöpft, niemand hatte schon genug. Und ich war der fröhlichste von allen. Nichts drohte mir, es wurde schon warm im Waggon, ich rauchte eine Zigarette, war mein eigener Herr. Die Müdigkeit löste sich, berührte mich nur noch ein wenig und das war sogar angenehm, gebe ich zu. Der Zug ratterte und schaukelte.

Ich stand am Fenster, den Blick dem Fenster zugewandt. Hinter dem Fenster war nichts zu sehen. Aber ich sah immerhin, daß es Mondzeit war, also mußten dunkle, große Wolken den Himmel verdecken. Ich dachte daan eine Sache, aber schauen wir. Alles läßt sich betrachten: was sein wird. Jetzt stand ich mit dem Rücken zum Fenster, das Gesicht zum Abteil. Im Abteil saßen Leute. Diejenigen, die das Schicksal ein wenig verwöhnte, die saßen jetzt in den Abteilen. Mich hatte das Schicksal auch verwöhnt, denn ich war als erster in den Zug gesprungen. Im Lauf, als er einfuhr. Niemand war schon da. Ich saß schon gemütlich am Fenster, während der Zug noch stand. Dann aber, als der Zug bald abfahren würde, mußte ich den Platz verlassen, denn ich mußte schauen, von welcher Seite sie kommen würden, um ihnen durchs Netz zu gehen. Gott mit ihnen. Die ganze Erste Klasse war schon voll besetzt. Das war anscheinend der beste Zug und der schnellste und von allen Seiten hörte ich, wie sie ihn rühmten. Also, als die Abfahrt bevorstand, verließ ich das Abteil, das schon voll besetzt war, auch in den Korridoren standen schon viele Leute. Großes Gedränge war nicht, denn immerhin war es die Erste Klasse. Zunächst wollte ich meinen Platz einem hübschen Mädchen überlassen, die an der Seite stand, schnell aber kehrte die Vernunft und das Gerechtigkeitsgefühl zurück und alle sonstigen Tugenden, und ich suchte jemand anderen, der mir gefiel. Der mir gefallen würde. Ich ging durch den ganzen Waggon, betrachtete alle, die auf dem Flur standen, aber ich fand niemanden, den ich ohne Zögern erwählt hätte. Schließlich gab ich den Platz an einen älteren Menschen weiter. Er war nicht der älteste von allen, aber sein Gesicht war hinreichend zerfurcht, ein einfacher Mensch wohl. Ich führte ihn zum Abteil, zeigte ihm den für ihn bestimmten Platz. Dann ging ich schnell zu einem Waggon in der Mitte des Zuges und reihte mich ein in dicht stehende Menge. So fuhr ich denn und so fuhr ich schon für eine gute Stunde.

Bald müßte eine Station kommen. Der Zug bremste noch nicht. Zweimal gab er ein Warnzeichen, aber nicht deswegen wußte ich, daß die Station nah ist. Nun fing der Zug langsam zu bremsen, und gern hätte ich gewußt, wo die Menschen auf dem Bahnsteig bleiben sollten, denn sie stehen da sicher, und sicher wollen mehr ein- als aussteigen. So ist es immer am Anfang. Erst mit der weiteren Fahrt steigen mehr aus als ein. Der Zug hielt an, und ich drehte den Kopf zum Fenster, um alles zu sehen. Der Bahnhof war recht groß. An kleinen Bahnhöfen hält dieser Zug nicht an. Nur an großen oder doch recht großen. Auf dem Bahnsteig liefen die Leute, die einen in die eine und die anderen in die andere Richtung. Wohin? Ich hätte gern gefragt. Der Bahnhof war neumodisch beleuchtet, mit diesen langen Röhren, so daß die Augen schmerzen. Ich erinnere mich, daß ich eine Sache beachten mußte: ist es windig draußen? Ich öffnete das Fenster und spuckte hinaus, damit die Leute glauben, ich hätte aus diesem Grund das Fenster geöffnet, daß sie sich nicht schüttelten und sagten, ich würde die Kälte hereinlassen. Ich spürte keinerlei Wind, das war gut, denn er hätte die Wolken vom Himmel verjagen können und damit auch den Schnee. Der Schaffner. Genauso wie zuvor hörte ich ihn rufen: Platznehmen, platznehmen, aus der gleichen Entfernung, das war gut, sehr gut, es beruhigte mich sehr, ich strich die Sorgenfalten aus meiner Stirn.

Wir fuhren. Ein wenig war noch zu sehen hinter dem Fenster, denn für eine Zeit fuhren wir noch durch den Ort. Leer war es in den Straßen, es war halt Nacht. Deswegen. Das Nachtleben einer Stadt findet überwiegend an einem anderen Ort statt. Ich steckte erneut eine Zigarette an und schaute, wie wir aus der Stadt hinausfuhren, an den letzten Häuschen und Baracken vorbei, bevor sie in der Dunkelheit verschwanden. Das war wirklich ein besonderer Augenblick. Ich zündete eine Zigarette an und drückte die Stirn gegen das Fenster. Zur Abkühlung. Denn es war warm. Sehr schön.

Das war jetzt die zweite Stunde der Fahrt. Eine zweite Jugend, aber nicht immer, nicht immer. Ich hatte das Gesicht noch immer zum Fenster gewandt, die Stirn an die Scheibe gedrückt, und liebevoll dachte ich an das Bad in der Frühe am nächsten Morgen, in einem leeren und kühlen Raum, schon drehe ich alle Kräne auf, und das Wasser floß heiß hervor, verdunstet rings umher, langsam wird es wärmer, das Wasser fließt über die Haare, über meinen armen Kopf, auf die Schultern, über den ganzen gehetzten und ramponierten Körper, schmutzig von all dem, aber wohin gehen, wohin sich wenden? Immer noch hatte ich den Kopf zum Fenster gewandt, die Stirn klebt an der Scheibe. Die liebevollen Gedanken wandten sich jetzt dem Frühstück zu, der kleinen Milchbar, wo es sauber ist, die Scheiben geputzt, das Wachstuch auf den Tischen ordentlich, nirgendwo verschmutzt, ich kaufte ordentlich Milch, vier Brote mit Fleisch und Käse, die Milch ist ganz heiß, es brennt mir in der Kehle von den kräftigen Schlucken, die ich nehme, sauber ist es ringsum, still, ruhig, und ich esse langsam und trinke dazu.

Ich hatte das Gesicht noch immer zum Fenster gewandt, die Stirn an die Scheibe gedrückt und liebevoll dachte ich an den schönen Sommer, diese herrliche Sommerzeit, wie ich auf einer Wiese liege, im Gras oberhalb des Flusses, lange hatte ich getaucht, geschwommen, gespritzt, ich liebe es, lange im Wasser zu sein, und jetzt verliebe ich mich in die Sonne, küsse freiherzig den Sonnengott.

Ja. Hoffnung ist nicht gut. Glaube ist gut. Am besten. Ich glaube endlos. Aus all meinen Tiefen glaube ich tief. Irgendwer wird mich irgendwann entdecken. Das weiß ich, das habe ich immer gewußt. Irgendwann wird es gut. Irgendwann wird es so sein, daß kein Albtraum mehr über mir schwebt. Keine Panik wird mich verfolgt, mich von Ort zu Ort jagt. Nichts wird mir den klaren Blick verschleiern. Kein schwarzes Siegel. Immer habe ich das gewußt. Deswegen halte ich aus. Auch das Schlimmste. Deshalb können jetzt Albträume über meinem Kopf schweben, mal höher, mal niedriger. Manchmal allerdings schweben sie so dicht vorbei, daß mich der Wahnsinn bedroht, Chryste Panie, laß es nicht zu, ich bin dem Ende nahe. Aber das ist noch nicht das Schlimmste, denn mein tiefer Glaube obsiegt letzten Endes immer. Schlimmer sind andere Augenblicke, andere Geschehnisse: ich spüre dann nicht die geringste Angst, Albträume quälen mich nicht, ich spüre keinen Kummer, keine Qual, alles scheint in Ordnung zu sein, ich denke an nichts, und das ist genau das, um das es geht, mein Kopf scheint sich zu entfernen, weit weg von allem, von dem, was ich weiß und von dem was ich nicht weiß, aber ich stelle mir vor, was ich mir vorstellen kann. Das ist kein Traum, denn ich sehe keine Traumfiguren, kann auch nicht sehen, denn ich habe keinen Kopf. Und weiß nicht, wo er ist. Mit den Sternen dreht er sich nicht, das ist sein Alltagsbrot. Und auch das ist noch nicht das Schlimmste. Im übrigen ist es weder das Schlimmste noch das Beste, es ist nicht einmal nichts, denn ich habe keinen Kopf, wie schon erwähnt. Das Schlimmste sind die die Augenblicke danach. Wenn der Kopf zurückkommt auf seinen Platz von seinen Wanderungen jenseits des Grabes. Diese Augenblicke. Das Schlimmste ist, daß es Augenblicke ohne Glauben sind, das muß ich sagen, ohne meinen großen tiefen Glauben an das, was sich mir offenbart. Das muß ich sagen und ich muß sagen, daß ich das ohne Reue sage, aber so ist es. Oh ja. Das sind hoffnungslose Augenblicke. Es rettet mich nur die selbstbezogene Liebe, die Selbstvergötterung, der Glaube an mich selbst. Mein Gesicht ist immer noch zum Fenster gewandt, die Stirn klebt an der Scheibe, und meine liebevollen Gedanken richten sich auf mich selbst.

Wir fahren. Ich war froh, daß ich nicht pinkeln mußte, daß ich mich nicht einen halben Waggon weit durch das Gedränge zum Lokus zwängen mußte. Selten habe ich einen derart überfüllten Zug gesehen. Alle standen gedrängt Arm an Arm, schweigend. In den Tagen vor einem großen Fest ist das so. Vor allem zu Weihnachten und Ostern ist es so. Dann treffen sich die Familien, alle ihre Zweige, jede Art von Verschwägerung: Onkel, Tanten, Schwäger, Schwägerinnen, Cousins und Kusinen, Schiegereltern, und auch studierende Töchter und Söhne, die Zukunft unseres Landes, die Blüte. Alle fahren sie dann. Aus fernen und nahen Gegenden. Schon einige Tage zuvor leben sie in festlicher Spannung. In dieser Stimmung. Aber wenn der feierliche Tag der Abfahrt kommt, nehmen sie ihre Taschen und Koffer, kaufen sich im Bahnhof eine Fahrkarte, obwohl der Zug erst in drei Stunden kommt oder in vier Stunden, aber das schadet nicht. Sie sitzen dann mit ihrer Fahrkarte im Wartesaal oder im Gemeinschaftsraum, am Fenster, wenn möglich, oder sie stehen, das Gepäck dicht vor den Füßen, die Taschen auf den Knien, denn sie kennen die Gepflogenheiten. Dann gehen die Reisenden auf den Bahnsteig, drängeln sich ungeduldig nach vorn, obwohl der Zug erst in einer Stunde kommt oder in anderthalb. Das schadet nicht. Wenn dann die Zeit kommt, zu der der Zug hätte einfahren sollen, hören sie über den Lautsprecher, daß der Zug Verspätung hat, ungefähr dreißig Minuten oder vierzig, niemand weiß es. Niemand weiß es, denn aus dem Lautsprecher kling es so, als hätte der Sprecher Rizinus getrunken oder eine andere Schweinerei, man fragt einander, einer sagt dreißig Minuten, ein anderer vierzig, wieder ein anderer zwanzig. Der Zug fährt nach einer Stunde ein, hält an, hält noch nicht ganz an, und dann erst beginnt der Kampf um die Plätze, wer was erwischt. Sie drängeln und stoßen, das gilt für alle: Onkel, Tanten, Schwäger, Schwägerinnen, Cousins und Kusinen, Schiegereltern, und auch studierende Töchter und Söhne, der Stolz unseres Landes, die Blüte.

Wir fuhren. Ich versuchte, mich zu entsinnen, ob es in den nächsten Tagen einen großen Feiertag geben würde, konnte mich aber nicht entsinnen. Vielleicht gab es nichts. Weihnachten nahte, aber erst in ungefähr zwanzig Tagen. Vielleicht in zehn Tagen, jedenfalls nicht früher. Woher also diese Menge? Vorher hatte ich darüber nicht nachgedacht. Die Menge war mir sehr recht, ganz ohne Nachdenken. Meine Gedanken waren mit anderem beschäftigt. Der eigenen Sicherheit. Aber weil es recht sicher war, recht sicher, ganz sicher kann ich nicht sagen, ließ ich den Gedanken freien Lauf, daß sie ein wenig Auslauf hatten, wohin es ihnen gefiel. Ich ließ die Zügel los, und jetzt kam mir das Gedränge seltsam vor. Woher konnte es kommen? Einen Festtag gab es in den nächsten Tagen sicher nicht. Aber vielleicht lag etwas an, dort wohin der Zug fuhr? Hatte es vielleicht ein Wunder gegeben? Hat sich dort etwas gezeigt, eine Erscheinung? War vielleicht etwas Übernatürliches geschehen nach menschlicher Ermessen? Und alle fuhren dorthin, um es zu betrachten? Alle fuhren dorthin. Aus fernen und nahen Gegenden. Denn so eine Meldung verbreitet sich schnell in der Welt. Pfeilschnell. Aber das kann wohl doch nicht sein, dann würden alle davon reden, wenn es so wäre. Überall würden Simmen laut, in einer anderen Stimmung würde man fahren, in einer religiösen Atmosphäre. In einer Atmosphäre geheimer Mächte. Jeder würde etwas zum Thema sagen: der eine, wie es ihn aufgerüttelt habe, der Geist des Herrn sei zu preisen; der andere, daß ihm die Mutter ganz in Weiß erschienen sei, die Mutter, die längst tot war; wieder ein anderer, daß er Stimmen gehört hatte, der Geist des Herrn sei zu preisen. Nein, nein. Das wäre eine eigenartige Belebung für die ganze Fahrt. Und was wäre dann mit dem Gedränge? Wenn etwas passierte, hätte es große Verluste unter den Menschen geben können.

Der Zug hielt einige Male an und war jetzt gut drei Stunden unterwegs, aber schon nicht mehr die dritte Jugend, die Reisenden merkten das, redeten nur noch wenig, einige redeten noch, die, die immer reden. Ich war der allerstillste. Ich versuchte, mit keinem ins Gespräch zu kommen, ganz allgemein bin ich jemand, der gerne nicht spricht. Nicht weil ich nichts zu sagen hätte, im Gegenteil, ganz im Gegenteil, aber mit wem reden, wem antworten, wer kann das sagen. Deswegen höre ich lieber zu. Ab und zu höre ich aufmerksam zu, dann wieder unaufmerksam, und wenn ich nichts mehr hören will, wechsele ich den Ort, und wenn gegessen und getrunken wird am Tisch, dann höre ich mit einem Ohr und lasse es zum anderen wieder raus, während ich esse und trinke.  Niemand soll mir sagen, das sei Betrug oder Untreue. Ich kenne noch die kleinsten Vergehen, und wenn mir derartiges unterläuft, bestrafe ich mich. Also niemand muß mir das erklären. Man muß essen und trinken. Das nennt man Mahlzeit. Oft hört man besser nicht hin. Während des Essens redet man ohnehin besser nicht. Etwas anderes ist es, still und fröhlich vor sich hinzusingen.  

Ich stand immer noch dem Fenster zugewandt, mit dem Gesicht zum Fenster, und hörte mit dem einen Ohr und ließ es zum anderen hinaus, was die redeten, die immer reden müssen. Ich verbrachte eine recht lange Zeit in einer solchen Milieu, besser wäre es, aufzustehen und wegzugehen, sage ich. Ich erzähle von diesem Milieu, weil ich in der Tat eine lange Zeit dort verbracht habe und alles Recht dazu hatte, alles Recht. Aber bald wurde mir klar, daß es eine große Schande für die meisten Mitglieder der Gesellschaft ist. Reinheit regiert dort nicht und auch keine schöne Schamhaftigkeit, weder Stolz noch Ehre, die einfachsten menschlichen Tugenden. Dunkle Kräfte walteten dort, dunkle Mechanismen, Doppelgesichtigkeit und Löchergraben. Aber diese Leute galten als die Auserwählten, und so mußten sie sein, so mußten sie sein, das Licht zur Wahrheit tragen. Noch eins sage ich über die Mitglieder der Gesellschaft, eins sage ich noch. Ich sage noch mehr, denn ich habe sie kennengelernt, lange Zeit in ihrer Mitte verbracht, denn ich wollte alles wissen, alles. Um ein Urteil zu fällen.

Wir fuhren. Ich wandte mich vom Fenster ab, das Gesicht zum Abteil, um die Augen mit etwas zu beschäftigen, denn die Müdigkeit überwältigte mich. Gern hätte ich die Hände gewaschen. Wie kommt das? In einem Zug werden sogleich die Hände schmutzig. Der Schmutz kriecht unter die Fingernägel und sonstwohin. Ich schaute meine Fingernägel nicht an, wußte, daß sie schmutzig sind, wollte das aber nicht sehen, denn jeglicher Schmutz quält mich. Auch Häßlichkeit quält mich und vieles andere noch. Etwas machte mir im Mundwinkel zu schaffen, eine Art Schorf. Ich nahm einen Taschentuch aus der Tasche, das ich im städtischen Bad gewaschen hatte, denn ich liebe saubere Taschentücher, säubere sie dort, wo ich kann, wo es sich trifft. Ich liebe große Tücher für sieben, acht Hände, und ganz kleine, so daß man eine ganze Woche schneuzen kann, und nicht nur ins Gewebe hauchen, so wie es fälschlich die eleganten Frauen machen. Ich nahm das Tuch, wie schon erwähnt, zog es glatt, und begann den Mundwinkel zu bearbeiten, um den Schorf zu entfernen, der dort entstanden war und der sich noch verbreiten und lange nicht heilen würde, und wenn ich den Mund öffnete, würde er aufreißen. Und das überträgt sich gleich aufs Gemüt, auf den Humor, das Verhalten. Das verletzt die Seele und den Körper. Daher besser ganz wegkratzen. Und da gibt es ein Vorgehen. Am besten mit einem groben Handtuch. Es gibt solche Handtücher. Frotteehandtücher heißen sie. Anschließend sollte man die Stelle mit Kölnisch Wasser oder Rosenwasser bearbeiten. Es sticht zunächst ein bißchen, aber das läßt sich aushalten. Als ich klein war habe ich bei kleinen Verletzungen und ähnlichem immer an die Indianer gedacht, wie mannhaft sie das Leiden ausgehalten haben. Auch jetzt, nicht wenn es um den Schorf im Mundwinkel geht, denn das ist eine Kinderei, aber wenn ich, was selten vorkommt, Zahn- oder Kopfschmerzen habe, was selten vorkommt, dann aber, wie man sagt, gleich doppelt, immer dann denke ich an die Indianer: wie würdig sie waren.

Ich leckte von Zeit zu Zeit über den Schorf im Mundwinkel, denn Speichel hat seine eigene Heilkraft. Im Abteil spielten vier Reisende Karten auf einem Koffer. Auf dem Gang unterhielten sich zwei über den Krieg, die Kriegszeit hatten sie gleichermaßen in Erinnerung. Sie fegten die Scheiße mit dem Mist zusammen, Offiziere der Armee. Und dennoch, so sagten sie, das war die Schule des Lebens, die Universität des Lebens. Zum einen Ohr kam es mir herein, zum anderen wieder hinaus, solche Erinnerungen hatte ich schon tausendmal gehört. In Zügen hört man es ständig. Ich schaute auf die Passagiere im Abteil. Vier spielten Karten. Ich wollte mit den Augen etwas erhaschen, ein lebendiges Bild, denn eine Welle von Erschöpfung und Müdigkeit erfaßte mich ziemlich heftig, und es war weder Zeit noch Ort zum Schlafen. Es war immer noch gut, keineswegs schlecht, Ruhe und Wolken am Himmel, aber es war weder Zeit noch Ort zum Schlafen, sage ich. Man sollte nichts auf die Schnelle entscheiden.

Am Fenster des Abteils saßen ein Mann und eine Frau, die Frau entgegen der Fahrtrichtung, die Köpfe hielten sie unter den Mänteln, die Beine ineinander verflochten. Es sah aus, als würden sie schlafen. So sah es aus. Aber als ich ein wenig länger auf die Beine schaute, sah ich, daß die Beine nicht schliefen. Als schliefen sie nicht. Wenn sie schliefen, würden auch die Beine schlafen. Und die Hände, und die Ohren, und die ganze Haut. Das ist die allgemeine Ökonomie des Schlafens eines jeden. Ein schönes Gesetz. Gesetz die Ruhe des Menschen betreffend. Aber ich hörte auf, auf ihre Beine zu schauen, denn das quälte mich, das Warten auf die nächste Bewegung. Wenn ich einer Lesung zuhöre, und es fällt immer wieder dasselbe Wort: Wahr, oder: Um das hier zu sagen – dann quält mich das auch, ich höre nicht mehr zu, sondern warte nur, daß wieder das leere Wort kommt. Aber dann will ich schon nicht mehr und stehe auf. Gehe weg.

Also, ich schaute nicht mehr auf die Beine und sah mich nach einer anderen Bewegung um, die der Kartenspieler auf den Koffern. Sie hatten zwei Koffer auf ihre Knie gestellt und spielten ein Spiel, das ich zu entziffern versuchte, so daß ich mit dem mitspielen konnte, der am nächsten zur Tür saß und dessen Karten ich genau sehen konnte. Das Spiel hieß Rommé oder auch Wariat, was verrückt bedeutet, wie einige sagen. Die Karten werden vom Haufen genommen, eine nach der anderen und nach der Farbe oder dem Bild ausgelegt. Der erste, der alle vierzehn Karten ausgelegt hat, hat gewonnen. Ich kannte das Spiel sehr gut. Ein Gesellschaftsspiel. Es wird vor allem in den Sphären der Intelligenz gespielt, obwohl ich sagen kann, das es keine großen Anforderungen stellt. Oft habe ich es gespielt, wenn ich mich in einem Intelligenzlerhaushalt befand. Es war kein adeliges Spiel, nicht königlich, wie etwa Schach und auch nicht herausfordernd wie Poker. Mit Enthusiasmus habe ich es nicht gespielt, beileibe nicht, wie man sagt, aber das war diese seltsame Anordnung. Ich mußte mich nicht zurückziehen, nicht in meine verborgenen Gedankenwelt, und das ist auch nicht möglich. Alles kommt freiwillig zurück in den Kopf. Ohne gedankliche Anstrengung, und dann beginnt schon das nächste. Das dritte ist noch nicht beendet, da beginnt schon das vierte. Das ist wieder diese seltsame Anordnung.

Erschöpfung und Müdigkeit überfielen mich: eine Welle. Dann verließ sie mich wieder, vielen Dank. Vielen Dank. Soweit bin ich schon gefahren, vielen, vielen Dank. Daß ich schon so lange lebe, vielen, vielen Dank: zwanzig und ein paar Jahre. Daß es Berge gibt, das Meer und Flüsse, vielen, vielen Dank. Daß es den Frühling gibt und den Sommer, den Herbst, vielen, vielen Dank. Daß es den Winter gibt, vielen, vielen Dank. Daß es Felder gibt und Wälder, die Sonne, schattige Wälder, vielen, vielen Dank. Daß es Hunde gibt und Kühe, und Ziegen, vielen, vielen Dank. Daß es die Erde gibt und den Himmel, Wolken, vielen, vielen Dank. Daß Schnee fallen kann, vielen, vielen, vielen Dank. 

 

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Auf der ersten Nachtfahrt nach Venedig hat der Dichter seine Schwindelgefühle noch längst nicht überwunden, der nahezu unbesetzte Zug erlaubt ihm aber in einen wenn auch nicht traumlosen Schlaf zu verfallen. Nach dem Erwachen lenkt er sich ab durch die Betrachtung der am geöffneten Fenster vorbeirasenden Außenwelt. Bei der zweiten Nachtfahrt sieben Jahre später ist der Zug hoffnungslos überfüllt, gerade das erlaubt im aber, auf dem eigenen Reisegepäck sitzend, sich ganz in seine Aufzeichnungen zu vertiefen. Ähnlich komfortabel hat es Stachuras Erzähler nur in der ersten halben Stunde, als der bereitgestellte Zug noch nicht abfahrtsbereit ist, er macht es sich in der Ersten Klasse bequem. Während der Fahrt dann geht es ihm, dem  Schwarzfahrer vordringlich darum, mit Strategie und Taktik eine Begegnung mit den Schaffnern zu vermeiden, dazwischen drängen sich fortwährend Phasen der Selbstbetrachtung, in geringerem Umfang auch Betrachtungen der Mitreisenden, es geht um die Tiefen und Untiefen des menschlichen Seins, eine immer seltsamer werdende bunte Mischung. Die Außenwelt ist im Dunkel so gut wie verschwunden. An die Stelle des aus anderen Erzählungen bekannten Lobpreis des Morgenlichts tritt die hoffnungsvolle Erwartung von Schneefall, einer anderen Form erlösender Helligkeit.

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