Freitag, 16. Juli 2021

Listy do Olgi

 Briefe an Olga

 

Mit Hingabe füllte er seine Schulhefte mit einem Netzwerk von Zeilen und Zahlen, in welches er das Fräulein Rauch auf immer einzuspinnen und zu verstricken hoffte. Auch war ihm damals, als wüchse er mit großer Geschwindigkeit und als sei es durchaus möglich, daß er im Sommer bereits mit seiner Lehrerin vor den Traualtar würde treten können. Von Briefen an das Fräulein Rauch ist nicht die Rede.

*  *  *

Soviel Schmerz. Soviel Schmerz, und auch so groß, zu groß, als daß man ihn in diesen Worten finden könnte. Ja, denn auch sie sind wider mich gerichtet in diesem Augenblick, alles ist gegen mich, auch die Worte, immer haben sie mich unterstützt, verlockend, verführerisch, mit großer Zärtlichkeit, aber jetzt sind sie sogar gegen mich gerichtet, denn ich kann diejenigen nicht finden, die unverzerrt spiegeln würden, woher der zugefügte so große Schmerz herrührt.

Vielleicht verspürst auch Du Schmerz, aber worin besteht er, worin? Bei meinem vergrabenen Schmerz, was ist da jeder anderer Schmerz? Oh, verflucht sei der Augenblick, als ich sie sah: Deine Augen: soviel Zärtlichkeit in Deinen Augen, die mir immer gefehlt hatte, darum habe ich alles vernichtet, was ich so geliebt hatte, denn darin war keine Zärtlichkeit für mich. Und ich wanderte in das Land Nod jenseits von Eden, wanderte tausend Tage und tausend Nächte, und ich sah Dich in diesem verfluchten, gottgelobten Augenblick.

Und ich mußte Dich sehen, denn ich wußte, daß ich finde, was ich gesucht hatte, daß ich mit Körper und Seele ersehnte, mit jedem Atemzug, jeder Beugung der Knie, unterwegs und in den Städten, Krümel aufsammelnd, viele Krümel, aber das war nicht das, das war nicht das Meer, das ich gesehen hatte, das sich irgendwo, schon nicht mehr weit, ergießen wird, in dem ich erfriere, bald schon, mich spalte, denn ich sehe, daß ich finde, was ich gesucht habe – Dich, Olga, mußte ich irgendwann erblicken. Oh ja. Das sind Worte, das sind Worte, die das Papier nicht annimmt. Diese meine brennenden Lettern kann das Papier nicht annehmen. Zu wenig weiß ist dieses reine, weiße Papier, zu schmutzig ist es für meine weißesten Lettern. Und ich sehe das. Sonst niemand. Sonst niemand.

1. April

Ich hatte das geschrieben, als Jurek ins Zimmer kam und sagte: Sted, Olga bittet dich. Im ersten Augenblick, ich erinnere mich sehr gut, begann ich zu tauen wie Eis, ich wollte keineswegs vor Freude schreien, taute nur auf, die Sonne schien mir, so wie eine Eisscholle ins Sonnenlicht gerät, warm. Ich fragte: Wo ist sie. /Auf der Treppe, war die Antwort. Ich ging hinaus auf den Treppenflur, und schon hatte ich Gelächter im Rücken, von irgendwo her, denn ich war über das Geländer gebeugt und suchte Dich, aber die Sonne war nicht da, nur Jureks Lachen und die Worte: Der Scherz ist mir gelungen. Heute ist prima aprilis. Das war ein Schlag zwischen die Augen, der mich nicht umwarf aber schmerzhaft war.

Ich ging zum Fenster und schlug Jurek nicht einmal, sagte nichts, ging nur zum Fenster und hätte dort geweint. Ich wollte dort weinen, aber auch sie, die Tränen, waren gegen mich: wie Fuchswelpen in ihrem Bau fürchteten sie sich hinauszuschauen, obwohl der Jäger längst schon weitergezogen war, so war mir lange zumute, ich stand am Fenster und wollte weinen.

Denn mir öffneten sich all die vergessenen alten Wunden, die vernarbt waren, wie ich dachte, und aufs neue wurde ich verwundet von alldem, das mich schon einmal verwundet hatte, und nur langsam schlossen sich die Wunden, mit Mühe nur erinnere ich mich an die Schuldigen, alles heilt nur sehr langsam, um sich dann aufs Neue zu öffnen, über und über war ich jetzt verwundet. Über und über war ich mit dampfenden Unrat bespritzt, durchs Fenster waren der blaue Himmel und die Sonne nicht zu sehen, dafür aber das, was sich im Winter unveränderlich und ewig zeigt und das sich in den vorüberziehenden dunklen Wolken ebenfalls zeigt, noch liebenswerter. Habe ich etwa nicht Dich gesucht? Habe ich Dir Unrecht getan? Antworte!

4. April

Ich schreibe weiter an Dich, denn Schicksal und Zufall, die immer auf meiner Seite waren, haben nicht erlaubt, Dich zu sehen, obwohl ich gestern bei Dir war, am Samstag, denn heute ist Sonntag, und auch heute war ich bei Dir. Aber zunächst gestern. Ich war bei Dir um sieben Uhr abends. So sehr habe ich mit mir gekämpft: fahren oder nicht fahren – und ich weiß nicht, was gesiegt hat: das Gute oder das Böse, obwohl der Kampf entschieden wurde, denn ich fuhr zu Dir. Ich ging die Treppe hoch und stand vor der Tür. Ich stand da für eine Weile, was soll ich sagen, wenn Du die Tür öffnest, aber das trat nicht ein. Ich klopfte an die Tür, schüchtern hoffend, das Du alles in meinen Augen siehst. Ich denke, ich hätte mich dann ins Wasser geworfen. Vertrauend, daß sie alles liest und mir nicht erlaubt um das Leben zu kämpfen, das ich nicht will und nicht anschließend als Beute ans Ufer werfe. Nur bei Dir kann ich bestehen.

Also vertraue ich Dir, daß Du alles in meinen Augen liest, so wie ich dem Wasser vertraue, wenn ich mich hineinwerfe. Auf die gleiche Weise warf ich mich in Dich, ohne zu wissen, was ich sage, wenn Du an der Tür erscheinst. Ich kehrte um, und nichts berührte mich. Ich fuhr zum Schron, setzte mich an die Bar, und alles in mir weinte. Rundumher tranken alle und schrien, ich aber saß an der Bar. Ich saß und ohne Mut, ganz ohne Mut wartete ich, daß Du unerwartet kommen mögest, mir die Hand auf den Arm legst und sagst Edward, wie es sonst niemand sagen kann, und Du weißt vielleicht nicht einmal, daß jedes Dein Edward mich liebevoll in Dir verschließt, und ich will meine Wanderschaft ganz und gar aufgeben, niemals noch irgendwo hin, nur liebevoll in Dir verschwinden. Aber niemand hat mich angefaßt und niemand hat mir etwas gesagt, obwohl einige mir etwas gesagt haben, aber niemand hat mir etwas gesagt, und ich wundere mich nicht. Ich saß so mutlos da, ich, der ich zuvor alle Talente hatte und alles mich darin bestätigte. Aber ich kam mir nicht komisch vor für die anderen, für mich selbst war auch mein Anblick nicht komisch, und ich denke, daß das nicht nur traurig war, weil zu offensichtlich. Dann stand ich auf und ging hinaus. Und ich ging zum Kanal, an dem wir noch vor vier Tagen gewesen waren. Warum sind diese vier Tage vergangen? So wie ich nie lüge, würde ich vierhundert andere Tage dafür geben, wenn diese vier Tage nicht gewesen wären. Daß vier diese vier Tage an dem Kanal gestanden wären: Du bei mir, ich bei Dir. Wo bist Du? Ich schaute auf das Wasser, das dahinfloß, zwei Meter unterhalb floß das Wasser dahin und verstärkte noch meinen großen Schmerz und meinen großen Zorn. Warum sind diese vier Tage verflossen?

Und ich stand da und schaute aufs Wasser, aber nichts berührte mich. Und ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn mich jemand berührt hätte, in dem Augenblick, als ich aufs Wasser schaute, das nah war, hier, und das mich sogar zu sich hinzog. Ich ging über die Brücke, weißt Du, und sprang auf die Straßenbahn auf, und wieder bat ich sehr, sehr bescheiden Gott oder jemand anderes, daß Du da wärst und ich Dich sehen könnte. Ich kam an, ging die Treppe hoch und klopfte sehr bescheiden, denn von mir war schon nichts anderes mehr geblieben als diese kleine Bescheidenheit. Ich klopfte heftiger, ich klopfte ziemlich lange, mal hefiger, mal leiser aber niemand antwortete. Ich ging hinunter auf die Straße und entschied mich zu warten. Weißt Du, was jede vor Deinem Haus anhaltende Straßenbahn für mich bedeutete? Mit der Du angefahren kommst? Nein, dann die nächste. Viele hielten an und jede erfüllte mich mit großer Hoffnung, die Zeit zwischen der einen und der nächsten aber verbrachte ich mit schmerzhaftem aber immer aber immer hoffnungsvollem Warten. Dann sagte ich mir, wenn Du nicht mit der nächsten oder mit einer der drei nächsten Bahnen kommst, dann gehe ich ganz fort.  

Gütiger Gott, wenn sie jetzt eintrifft, dann sehe ich sie und gehe gleich weg, zeige mich ihr nicht.  Nur, daß sie kommt. Ich denke, schon als ich das zweite Mal mit der Straßenbahn zu Dir fuhr, wollte ich nichts anderes als Dich sehen, obwohl mich nichts berührte und später auch nicht. Ich war nicht eifersüchtig, unnötig rede ich davon, aber ich will Dir alles erzählen, soviel wie möglich. Also, eifersüchtig war ich nicht. Das vermag ich gar nicht. Weitaus mehr vermag ich, ich sage mir, ich sehe in der Ferne eine Straßenbahn, und Du sitzt darin und jemand anderes ist bei Dir, irgendein Typ, ein Facet. Und wenn Du nicht kommst nach einer gewissen Zeit, und ich sehe die nächste Bahn macht es mir nichts aus, wenn dieser andere Dich küßt. Vielleicht verstehst Du das, ich wollte dann schon, daß jemand mit Dir aussteigt, daß er Dich küßt, daß ich Dich sehe, daß mich der Schlag rührt. Daß ich sauber wäre. Es war spät, als ich mich schließlich entschloß zu Fuß in Richtung Innenstadt zu gehen. Nein, ich war noch nicht überzeugt, aber ich hatte Hoffnung, eine winzige Hoffnung, daß ich Dich treffe, ebenfalls zu Fuß unterwegs, weil Du nicht auf die Bahn warten wolltest, die in der Nacht weitaus seltener fährt als am Tag. Ich ging lange, und unterwegs begegneten mir zwei weitere Bahnen, in denen ich versuchte, Dich auszumachen, aber sie fuhren schnell vorbei und es gelang mir nicht, alles zu sehen, aber sie waren so gut wie leer.

In Oporów kam ich wohl spät an. Vielleicht zur zweiten, dritten oder vierten Morgenstunde, ich weiß nicht, es waren keine Sterne da, und ich wollte auch gar nicht wissen, welche Stunde es war. Ich weiß, daß ich sehr lange gegangen bin, es kam mir so vor, als sei ich niemals im Leben so weit gegangen, obwohl ich sicher öfters noch zehnmal weiter gegangen war. Einmal, entsinne ich mich, ging ich die ganze Nacht und den halben Tag in einer Einöde in Pommern umher. Ich floh vor so einer Bande, die mich vielleicht umbringen wollte, aber nichts geschah. Es war eine lange Flucht, länger als gestern, fünfmal länger, bis ich endlich einen Schober fand, ich legte mich nieder, konnte nicht mehr weiter, und sie hatten mich vielleicht so weit gar nicht gejagt. Ich erwachte mitten in der Nacht, nach dem Urteil der Sterne, zitterte vor Kälte, obwohl es noch Sommer war, aber die Nächte sind überwiegend kalt und böse. Ich stieg nach oben im Schober, machte mir ein Lager im Stroh und legte mich hin. Schlafen wollte ich schon nicht mehr, schaute nach den Sternen. Ich war ein wenig hungrig, vor allem aber dachte ich nach. Ich denke immer viel, jetzt aber besonders viel. Am meisten aber sehnte ich mich. Ich denke, nach Dir, aber Du weißt vielleicht nichts oder nur ein wenig. Ich sehnte mich unermeßlich, dachte auch unermeßlich, daß da draußen in der Ferne jemand ist, unter demselben Himmel, und er mußte sich nach mir sehnen, und wenn er schlief, mußte er aufwachen, denn das war unmöglich, daß er niemanden traf in seinem Herzen, inmitten der Nacht, im Herzen der Nacht. Ich dachte noch, ich würde mich nach einer Frau sehnen, aber oft sehne ich mich nach einem Mann, der mir ähnelt. Aber dann sehne ich mich nach einer Frau mit einem Sohn in ihrer Obhut – ein Söhnchen, das mir ähnlich ist. Irgend jemand also mußte sich nach mir sehnen in diesem Herzen der Nacht, anders wäre es unmöglich. Aber darüber dachte ich in diesem Augenblick nicht nach. Ich erinnere mich, daß eine so große Zärtlichkeit mich erfaßte, daß ich Bauchschmerzen bekam, und ich dachte schon, mir würde übel werden. Ich weiß genau, daß diese Bauchschmerzen nicht vom Hunger herrührten. Auf keinen Fall. Zärtlichkeit umhüllte mich wie Wasser oder die Sonne oder der Wind. Unermeßlich.

Auch jetzt überfällt mich nicht selten ein Schmerz in der Bauchgegend, dabei bin ich gut gesättigt. Ich bin jetzt stärker überzeugt, denn immer habe ich schon gedacht, daß Körper und Seele unzertrennbar sind, und wenn die Seele traurig ist, dann auch der Körper. Offensichtlich verspüre ich all meine Beweglichkeit und Fertigkeit, ererbte Talente, aber wozu dienen sie mir in diesem Augenblick? Wozu? Wenn sie mich gestern überfallen hätte oder auch nur einer von ihnen, hätte ich mich in keiner Weise gewehrt. Ich hätte mich den Schlägen und Tritten gefügt, vielleicht sogar mit einer gewissen Lust. Vielleicht verstehst Du das nicht, aber für mich hätten die Schläge in die Schultern und die Zähne vielleicht eine beruhigende Tätigkeit gehabt.

Letztendlich kam ich zum Haus dieser Ratte, bei der ich wohne, aber es bereitete mir keine besondere Freude, daß ich seine verlogene, falsche Fresse nicht zu Gesicht bekam, denn es war spät, und er schlief schon lange, also bekam ich ihn nicht zu Gesicht. Ich öffnete die Tür, denn ich hatte einen eigenen Schlüssel, und ging so leise wie möglich in das Zimmer, das mir noch für zwei Wochen zur Verfügung stand. Ich zog den Mantel aus, und setzte mich, um irgendetwas zu schreiben, in der vagen Hoffnung, es würde mir Trost und Erleichterung bringen. Zuvor war es immer anders gewesen, wenn ich mich zum Schreiben niedersetzte, war ich immer sicher, es würde eine große Qual, zugleich aber mindestens eine ebenso große Freude sein. Jetzt aber ist es anders. So jemand war ich noch nie. Ich bereitete mir einen Tee, setzte mich auf einen Hocker, zündete eine Zigarette an, legte rauchend den Kopf auf die Seite, versuchte einige Zeit an nichts zu denken, wohl wissend, daß vor dem Schreiben ein vorübergehendes Nichtdenken mich inspiriert. Es gelang mir aber nicht, nicht zu denken, vielleicht dachte ich ohnehin an nichts, aber ich war zermürbt. Ich war nicht ganz. War nicht konzentriert. Irgendetwas riß sich von mir los und verletzte sich irgendwo die Flügel: über dem Kanal, im Schron, bei Dir in der Küche, im Vorzimmer, im Zimmer. Irgendetwas von mir irrte herum, ich mußte bluten, denn ich fühlte das deutlich. Wie konnte ich da schreiben?

 

Also konnte ich nicht schreiben, schlafen, das wußte ich, war umsonst, ich dachte an ein Bad, das ich immer als etwas großartiges empfinde. In jedem Ort, an dem ich mich befand, fragte ich als erstes nach der Badeanstalt: wo sie ist. besonders im Winter war das Bad mein Zufluchtsort. Also spät am Abend oder, besser noch, am frühen Morgen dachte ich, weil ich nicht schreiben konnte und nicht schlafen wollte, an das herrliche Bad. Ich drehte den Wasserhahn auf und hängte ein Tuch darüber, damit das Wasser still floß und nicht spritzte. Abwartend, als es floß, ging ich in das Zimmer, das für einige Tage noch mein Zimmer war. Ich öffnete das Fenster weit und stand davor, denn es war nicht in mir, die Nacht war nicht in mir, trotz allem. Sie wird es nie sein. Aber der Schmerz war in mir, für längere Zeit faßte er mich in der Mitte, alles war dort unverändert, und ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß sich etwas ändern könnte, daß sich eine Beruhigung einstellen könnte, obwohl nicht Nacht in mir war und niemals sein wird. Ich stand dort und schaute in die Nacht, vor Erschöpfung dachte ich an gar nichts mehr. Schaute nur vor mich hin.

Nach einiger Zeit schreckte ich auf und ging ins Bad. Wasser war schon genug eingeflossen, also zog ich mich aus und stieg in die Wanne, tauchte langsam unter, denn das Wasser war ziemlich heiß, und fühlte, daß, wenn ich schnell untertauchen würde, etwas in mir zu Bruch gehen könnte. Ich lag dann in der Wanne und bewegte ab und zu die Beine. Ich planschte leise vor mich hin, und mir war wohl zumute, mehr oder weniger wohl, aber eine totale Erschöpfung überkam mich, Körper, Kopf, ich drehte schnell den Hahn mit kaltem Wasser auf und streckte den Kopf nach vorn, um den Körper herauszuhalten. Ich verhielt mich sehr leise, den die Ratte schlief hinter der Wand, und ich wollte ihn nicht aufwecken, denn aufgeweckt hätte er mir vielleicht etwas gesagt, nicht um mich zu schelten, denn ich hatte seine Achtung erworben, und daran lag mir. Er hätte mir vielleicht etwas gesagt, diese Ratte, um eine Zigarette gebeten, mich gefragt, wo ichgewesen bin, ganz egal, ich hätte ihn gesehen, und ich weiß selber nicht, ob ich ihn dann vielleicht hätte erwürgen wollen, die Ratte. Also verhielt ich mich so still wie eben möglich, denn ich wollte ihn nicht aufwecken, diesen Augenblick nicht erleben, denn ich hätte ihm etwas Schlimmes antun können, obwohl das für mich, vermute ich, etwas Gutes gewesen wäre, und für den ganzen Stamm der Edlen und selbst für die Humanität insgesamt etwas nicht besonders Schlimmes. Also trocknete ich mich still ab und verließ das Bad, legte mich still hin, empfand schon nichts mehr, erinnerte mich an nichts, außer dem herumirrenden Kopf, dem herumirrenden Kopf.

Jetzt ist es wohl ungefähr Mitternacht, ich weiß nicht, könnte schon der 5. April sein. Oder meinetwegen der 4. April. Als ich erwachte, war es, zu urteilen nach dem Stand der Sonne hinter der Gardine und dem Lärme auf der Straße, fast schon Nachmittag, bestätigt auch durch die Düfte dieser süßen Tageszeit, sei’s drum. Ich erwachte zu ersten Mal aus dem Schlaf eher aus der Hölle als vom Berg herab. Ich entsinne mich nicht an das Einschlafen und wie wir auf den Berg gelangten, auf dem wir uns befanden, oder an das Tal ganz unten, nicht an das hohe Gras, denn ich sah nur Deinen Kopf – weißes Haar. Ganz weißes Haar hattest Du. Mein Gott. Du warst vor mir im Gras, zwanzig Schritt entfernt ungefähr, und gingst frei daher, waagerecht zum Hang. Ich ging hinter Dir her, zwanzig Schritte entfernt, ohne Versuche, Dich einzuholen, als ob ich wüßte, daß ich nicht zu Dir nicht aufschließen kann, Du gingst leicht dahin, mit erhobenem Kopf, die Haare ganz weiß, mein Gott. Dann drehtest Du Dich um und ich sah Dein junges Gesicht, jünger noch, ich sah es genau, bei zwanzig Schritt Entfernung, vielleicht nur fünfzehn, sehr genau trotz meiner schwachen Augen, besorgt. Was habe ich dir getan? – fragtest Du.

Oh, nein. Nein. Ich wachte sogleich auf, denn ich hörte einen Klageruf, der mir die Kehle zuschnürte, unaussprechlich schwer, unter der Erde hervorgezogen, den Bergen der Welt. Wie schwer das war. Aus der Kehle hervorgestoßen, ein Klageruf aus der Hölle, noch im Schlaf geboren, im Wachsein schon erstorben. Der Klageruf währte nur einen kurzen Augenblick, erstarb sogleich im Wachsein; der Klageruf währte nur einen Augenblick, wie er sich in dieser kurzen Zeit erstreckte, das fühlte, hörte ich deutlich in jeder Sekunde, die Endlosigkeit dieses Augenblicks, der die Brücke war zwischen Schlaf und Wachen, verband also alles, denn wo ist alles, wenn nicht zwischen dem einen und dem anderen. Ich wachte also auf, denn ich mußte eine übermenschliche Bewegung machen, etwas Maßloses wollte ich forttragen, etwas auseinanderreißen, das Unmögliche überwinden, zwanzig Schritte, fünfzehn sogleich fünfzehn vielleicht, da hörte ich diesen Klageruf von jenseits der Welt geradezu. Deine weißen Haare, oh Gott!

Wo bist Du, Olga? Wo bist Du? Komm. Wir legen uns nieder im sehr hohen Gras, niemand sieht uns, nur der Himmel und ein Vogel hoch oben in seinem Flug, niemand stört uns, die Sonne wird uns berühren und ich deine wunderschönen weißen Sonnenhaare. Wo bist Du? Komm, komm zu mir mein Mädchen. Aber ich erwachte schon nach kurzer Zeit, zum zweiten Mal, fünfzehn Minuten vielleicht hatte ich geschlafen, zwanzig Minuten hatte ich mich gewälzt, gebrannt, verfluchte Worte, was sind das für Worte, zwanzig Minuten hatte ich gebrannt, war zum zweiten Mal erwacht, und ich wundere mich nicht, denn wie kann man es noch länger im Feuer aushalten? Zwanzig Minuten im Feuer, da bleibt wohl nichts, nicht einmal vom Gebet ein Federchen, nur Gestank und undurchdringlicher Rauch, und eine Handvoll Asche, jetzt heißt es finden, suchen heißt es, denn das ist keine Reliquie, das ist Dünger: auf ihm wächst wieder etwas, erblüht wieder und wieder der Ruf: Wo bist Du? Komm, komm zu mir mein Mädchen.

Viele Male bin ich gestorben und wiederauferstanden, zehnmal, zwanzigmal vielleicht, wie die zwanzig Schritte, die Du mir voraus warst. Dann riß ich mich mit letzter Willenskraft auf vom Bett, denn ich befürchtete, noch ein wenig, und schon keine Auferstehung mehr vom letzten Sterben, von dem ich nicht will, daß es das letzte war, lieber das vorletzte, das letzte möchte ich Dir widmen. So riß ich mich also mit vorletzter Willenskraft aus dieser Hölle noch eher als aus dem Bett und ging ins Badezimmer, kaltes Wasser für die Stirn, die Augen, die Arme und den Hals. Ich konnte mich nicht losreißen vom Wasserhahn, das kalte Wasser hat eine wundersame Heilkraft. Noch ein Strahl, noch einer und noch einer. Vielleicht zwanzigmal auf den Brandherd, um wieder aufwachen, wiederzubeleben, den Blutkreislauf wieder in Schwung zu bringen. Das war sehr angenehm, ich mußte es trotz allem wertschätzen.

Dann ging ich ins Zimmer und begann mit Hand-, Bein- und Ganzkörpergymnastik, denn ich glaube nach wie vor, daß ein gesunder Körper einen gesunden Geist nach sich zieht. Draußen war es Sonntag, Sonne am Nachmittag, viele Leute strömten auf den Platz, obwohl es kein Fußballspiel gab, aber es war warm, April, grünende Blätter bereits, die Mutter im schönsten Kleid ihre Kinder im Kinderwagen, die Männer gingen nebenher, steifer, aber auch ein wenig würdevoll, grüßten Bekannte mit einem Kopfnicken, die Frauen beugten sich über andere Kinderwagen, und die Sonne liebkoste das alles an einem Sonntagnachmittag im April. Ich dachte für mich, es sei angenehm über den Friedhof zu spazieren. Nahebei ist ein Friedhof. Dort ist das Grün noch heller. Die Toten sehen nichts, viele Tote gibt es da, und die Frühlingsblumen  müssen wie leuchtende Sterne sein. Ich dachte mir, dort ist es still, und unter den Toten kann man sich als Halbtoter fühlen, das wünsche ich mir sehr, denn all mein Haß wäre dann nur ein halber Haß, mein ganzer Schmerz wäre dann nur ein halber Schmerz, also wäre es um die Hälfte besser. So dachte ich, als ob außer Dir etwas existieren könnte für mich: Frühlingserwachen? Sterne? Halbierung? Ich kämpfte so gut wie gar nicht, wehrte mich nicht, wäre das etwa Rivalen für Dich: Grün? Friedhofsstille? Tote? Ich zog mich schnell an und lief zur Haltestelle, um die Straßenbahn zu Dir zu nehmen. Ich kam an, ging die Stufen hinauf, klopfe, ganz leise zunächst, dann mit der Faust, nochmal mit der Faust, mit dem Fuß, nichts. Dann kam mir ein Gedanke. Hattest Du Dir etwas angetan?

Als ich noch sehr jung war, ich erinnere mich, hatte ich im Traum die Fähigkeit, mich in die Luft zu erheben. Ich mußte nur mit den Händen die Flügelbewegung der Vögel nachahmen, und schon erhob ich himmelwärts. Das war ein sehr angenehmes Gefühl, und heute kann ich das in keiner Weise nachahmen, obwohl ich es bei einem neuen Versuch sicher hinbekäme. Oh, mein Herr, mein Gott. Groß sind Nansen, Amundsen, Czeluskin. Die Ratten vermehren sich, mein König, so viele Ratten, möge die Flöte ertönen. Sei gegrüßt. Sei willkommen. Ave, Flöte. Flamen, Normandie, Provence, Mazedonien. Ach du, armer Junge, du Verlorener, gesät zwischen Disteln und Haken, verdorbenes Saatgut, beschämend. Ave Maria. Ave Rattenfänger mit der Flöte. Oh mein Herr, mein Gott. Jerusalem Babylon Hosianna. Als ich noch sehr klein war, konnte ich auffliegen, in die klare Luft, Hosianna, Flügel, oh ihr Flügel. Pomiłuj boh. Mein Herr, mein Gott. Wälder, mein Gott. Gräser. Das sind Akademiker. Äuglein im Kopf, mein König. Der Sterz des Sperlings. Die Feder des Sperlings. Das Gras. Der Halm. Ameisen, mein Herr. Königliche Bienen. Es reichte, die Hände zu bewegen, so wie der Sperling die Flügel, und schon war Himmelfahrt für mich. Mein Herr, mein Gott.

6. April

Ich vermag nicht, Dir den Sonntagabend zu beschreiben und nicht den ganzen Montag und den ganzen Dienstag, denn jetzt ist Dienstagabend und ich bin bei Dir, und Rena, die Freundin, die bei Dir wohnt, sagt mir, Du seist am Mittwoch fortgefahren, also gleich danach, und wenn ich käme, sollte sie mir sagen, daß Du fortgefahren seist. Kurz hatte ich unterwegs zu Dir Renas Typen in der Straßenbahn getroffen. Auch er hatte bestätigt, daß Du fortgefahren seist und zwar mit Rena, daß ihr nicht da wäret, niemand sei da. Also, als er das sagte und Rena es später wiederholte, daß Dir also nichts passiert sei, da erfaßte mich eine grenzenlose Freude, aber nur für kurze Zeit, denn gleich ging mir der Gedanke durch den Kopf, wenn ich Dich in diesem Augenblick bei mir hätte, dann würde ich vor Glück Deine Füße küssen und dann würde ich aufstehen und Dich schlagen. Ich würde Dich schlagen.

Wieder der Schmerz. Wieder zeichnet sich das ab. Auf breiter Front. Oft hatte ich Ähnliches beim Musikhören erlebt, besonders beim Chorgesang aus der Ferne. Ja, sicher wieder Ähnliches. Nicht so stark vielleicht, aber ähnlich. Besonders wenn es um Chorgesang ging oder auch um Sologesang. Die Töne wuchsen langsam und weich von hinten und von der Seite hervor, und in mir dehnet sich etwas und beugte sich wie das Gras oder ein Kornfeld bei Wind. Ja, der Wind. Der Wind erhob sich vom Zentrum her beim Hören der Musik und der Chöre. Aber warum schmerzte er, dieser Wind? Warum schmerzt er, dieser weite Wind, denn er schmerzt weit, ganzheitlich. Als würden große, ungezählte Chöre mich rings umgeben und den Kopf umkreisen und mit ihren Gesang das Herz in alle Richtungen zerreißen.

Ich sitze und schreibe, aber was sind das für Worte? Was für Worte? Ich weiß, daß es keine Worte sind, keine makellosen Spiegel, ich weiß, ich weiß, daß ich Dir all das nicht unterbreiten kann, nicht mit Spiegeln, nicht mit Spiegeln, nicht mit unendlichem Weinen, nicht durch Ertränken im Fluß, oder mit meinem aus dem Fenster eines Hochhauses auf das Pflaster geschlagenen Körpers, und dann ist es schon nicht mehr mein Körper, auch nicht Deiner, aber eher Deiner als meiner. Ich fürchte mich nicht allzusehr davor, denn ich habe diesen Hang zum Tragischen, dieses Talent zur höchsten Ungerechtigkeit. Aber ich weiß, daß auch das längst noch nicht alles wäre, was ich Dir opfern wollte, Dir zu Füßen ausbreiten. Denn davon habe ich allzuviel. Denn ich bin so gebaut, wenn ich etwas liebe, wenn ich Olga liebe, dann ist meine Liebe zu Olga nicht allein Weinen für Olga, nicht allein Töten für Olga, geschweige denn Schreiben an Olga. Aber ich schreibe Dir, schreibe Dir, weil vielleicht irgendwo in dem, das ich schreibe, ein Kleinod für Dich verborgen, wertvoller vielleicht noch als das Kleinod des Weines oder als das Kleinod des Tötens. Obwohl ich ein einfacher Mensch bin, schlicht und stolz darum, obwohl ich manchmal denke, ich sei einer der Götter. Und ich sage Dir, daß mir solche Gedanken genau in dem Augenblick kommen, wenn ich an Dich schreibe: an einigen Stellen und zwischen einigen Stellen denke ich, daß ich ein kleiner, armer, kümmerlicher Mensch bin, und an anderer Stelle denke ich, ich sei doch so elend bin, und wieder an anderer Stelle denke ich wiederum, ich müsse wohl zu den Göttern gehören.

Rena sagt, du würdest morgen kommen, ich könne ja wohl bis morgen warten. Ich hatte ihr gesagt, ich wolle fortfahren und wolle mich von Dir verabschieden, wenn ich in einer Stunde vorbeikäme. Ich hatte ihr nicht gesagt, daß ich schon heute wegfahre. Ich hatte schon nicht mehr diesen Wunsch, diese Entscheidungskraft. Aber wenn Du morgen kommst, dann fahre ich doch schon heute. Ich fahre. Zu lange habe ich gewartet. Zu lange bin ich umhergegangen und habe gesucht: tausend Tage und tausend Nächte. Ich werde nicht noch eine Nacht warten. Das ist zuviel. Und das wäre auch nicht gerecht, denn Du bist es nicht. Du bist nicht Olga. Ich sage Rena also, daß ich bis morgen auf Dich warten kann, aber ich fahre heute. Das wird ihr wehtun, sagt Olga. Oh mein Herr, mein Gott.  

*  *  *

Die Erzählung Ein Tag schließt mit einem Traumbild, eine gewisse Olga beugt sich über den im Wartesaal des Bahnhofs schlummernden Erzähler und sagt: Ich heiße Olga. Schließ die Augen. Ich werde Dir alles erzählen. Ungeklärt, ob Olga nur ein Phantom ist. In der folgenden Briefe an Olga setzt sich der Traum fort und nimmt wahnhafte Züge an. Ein Freund versucht vergeblich, den Erzähler mit Hilfe eines Aprilscherzes von seinem Wahn zu befreien, er wird fortan als Ratte bezeichnet. Das Zimmer, an dessen Tür der Erzähler immer wieder klopft, wird wohl nur von einer Frau namens Rena bewohnt und nicht zusätzlich von einer Olga.

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