wenn möglich
In seiner kürzesten Erzählung, einer der kürzesten Erzählungen in der Literatur überhaupt, gibt Kafka zu bedenken, und es ist der Großvater, der spricht: Es ist kaum zu begreifen, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß, von unglücklichen Zufällen ganz abzusehen, schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht. Im Kafka wohl vertrauten China, man denke nur an seinen Beitrag zum Bau der chinesischen Mauer, klingt es aus Lao-Tses Mund ganz ähnlich, wenn er von den Dörflern spricht, die die Hunde aus dem Nachbardorf hören, es aber zeitlebens nicht besuchen. Diese mehr als berechtigten Vorbehalte der Weisen gegenüber einem leichtfertigen Ortswechsel sind heute weitestgehend verstummt, wer nicht alljährlich zum Spaß den Erdball mehrfach umkreist, gilt schon fast als Versager und Underdog. Der Dichter teilt diese Einschätzung nicht, wie seine immer wieder sich zeigende Abneigung gegenüber dem Ferienvolk belegt, das zweifellos das Gros der rastlos Reisenden ausmacht. Andererseits aber weist er selbst in seinen Berichten vielfach eine rege Reisetätigkeit auf, allerdings, wie er eindringlich betont, nicht zu Urlaubszwecken. Was aber ist es anderes als Urlaub, wenn er zugibt, nach Wien gefahren zu sein in der Hoffnung, durch eine Ortsveränderung über eine besonders ungute Zeit hinwegzukommen? Der Dichter muß denn auch für diese seine Sünde büßen, die Reise wird zum Desaster, zu guter Letzt stürzt er Hals über Kopf aus der Pizzeria VERONA und erreicht gerade noch den Nachtzug nach Innsbruck. Für die zweite Italienreise vermag er dann eine rechtfertigende Begründung zu nennen, auch wenn die nicht jeden überzeugen kann: er wolle die schemenhafte Erinnerung an die gefahrvolle Zeit der ersten Reise überprüfen und vielleicht einiges aufzeichnen. Nun ja. Grundsätzlich allerdings besteht kein Zweifel, daß ein Literat sein Quellen und Erkenntnisse überprüfen muß, unter diesem Gesichtspunkt sind spätere Reisen in die Schweiz, nach Korsika oder selbst in die USA als unbestreitbar notwendige Geschäftsreisen einzustufen und nicht zu bemängeln. Die starre Ablehnung jeglicher Wanderungsbewegung, wie Lao-Tse und Kafka sie vertreten haben, läßt sich auch unter diesem Gesichtspunkt in der modernen Welt nicht mehr durchsetzen.
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