Mittwoch, 2. März 2022

Reisegespräche

West und Ost

Ein von mehreren Reisenden geteiltes Abteil führt nicht immer zu Gesprächigkeit, und ein Gespräch ist auch nicht immer verlockend. Da sitzt Ihnen jemand gegenüber, sichtbar die Zunge, auf der sich noch Essensreste befinden, die Beine gespreizt, Bauch und Unterleib auf eine grauenerregende Weise eingezwängt in eine kurze Sommerhose, da ist man doch erleichtert, wenn er wenigstens schweigt. Ganz anders die Fahrt nach Mailand, gegenüber im Abteil ein junges Mädchen mit einer aus vielen farbigen Flecken geschneiderten Jacke um die Schultern und eine Franziskanerschwester, beide von vollendeter Schönheit, beide in ihre Lektüre vertieft. Zu einem Gespräch kommt es unter diesen Umständen nicht, die gemeinsame Stille umso beglückender. Ein Fauxpas unterläuft dem Dichter allerdings auf der Bahnfahrt rheinabwärts, als die Winterkönigin mit der Rezitation eines Gedichts ein Gespräch anbahnen will, er aber nur dumm und stumm dasteht. Das Gespräch mit jemandem, der ein Buch liest, von dem noch nie jemand gehört hat und auf das es keine Hinweise gibt, wäre sicher anregend verlaufen. 1992 fährt er in einem zwischen Norwich und Lowestoft verkehrenden, mit Ruß und Öl verschmierten Dieseltriebwagen an die Küste hinunter. Die wenigen Mitreisenden saßen im Halbdunkel auf den abgewetzten Sitzpolstern, alle in Fahrtrichtung, möglichst weit voneinander entfernt und so stumm, als hätten sie noch niemals in ihrem Leben ein Wort über die Lippen gebracht. Anders sieht es aus, wenn ein alle und jeden ergreifendes Thema im Raum steht, etwa der Unfalltod einer Kinogröße am frühen Morgen im Breslauer Bahnhof. Alle und jeder hat etwas zu sagen, es schwirrt nur so in den Abteilen und in den Gängen, Pradera allerdings raucht still seine Zigarette, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil der Vorfall ihm zu nahe geht für das Geplapper. Während über die westeuropäischen Zugabteile eine Art Redeverbot verhängt zu sein scheint, kommt es in polnischen Zügen auch ohne katastrophale Ereignisse immer wieder zu einem regen Meinungsaustausch. Gespräche ein wenig über alles, ein Eisenflechter und ein Friseur geben in dem Abteil die Themen vor, Pradera beteiligt sich kaum, seine Gedanken gehen in andere Richtungen. Eine unbestimmte Dame anscheinend ohne eigenen Ansichten führt immer an, was ihr Mann zu diesem oder jenem Problem gesagt hat oder wohl gesagt hätte. Erheblich anders sieht er in den Nachtzügen aus, Nocna jazda pociagiem, für die der polnische Dichter sich in der Regel kein Ticket besorgt, er muß aufpassen, daß ihn der Schaffner nicht überrascht, nur kurze Wortwechsel sind unter diesen Umständen möglich: Können Sie mir Feuer geben? Bitte sehr. Fahren Sie weit? Bis zur Endstation, und Sie? Auch bis zum Ende. Wirklich? Das ist großartig. - Die meisten Reisenden schlafen ohnehin.

1 Kommentar:

Christian Runkel hat gesagt…

Ich schweige auf längeren Bahnfahrten immer gern - einmal, weil ich meist einen Lese- oder Schreibplan für die Bahnfahrt habe, zum anderen, weil ich die entsprechenden Pläne der Mitreisenden achten will.