Dienstag, 19. April 2022

Akrobatik

Änderungen

Du mußt dein Leben ändern: Sloterdijk hat Rilkes Gedichtausklang zum Buchtitel gemacht. Man kann unterstellen, Giorgio Santini, ursprünglich San Giorgio, habe ich seinem mehr als tausendjährigen Dasein sein Leben oft genug geändert, übergreifend vom Drachentöter zum Artisten, was dazwischen liegt, ist leider nicht dokumentiert. Wir treffen Santini im deutschen Konsulat zu Mailand, wissen aber nicht, was sein Anliegen ist. Will er sich in Deutschland nach erweiterten Berufsmöglichkeiten umsehen? Artisten im herkömmlichen Sinn haben nicht mehr die Resonanz wie vor hundert Jahren. Kafka vermerkt ausdrücklich, in den letzten Jahrzenten sei das Interesse an Hungerkünstlern stark zurückgegangen, die Sparte der Hungerkunst, des Hungerkünstlers ist inzwischen längst erschöpft, als Hungerkünstler kann man buchstäblich sein Brot nicht mehr verdienen, man müßte denn ergänzend als gewichtsbewußter Skispringer Aufmerksamkeit erregen und Erfolge aufweisen. Das würde Santini, den Hochseilartisten, nicht weiter betreffen, aber, wiederum Kafka mit vorausschauendem Blick, der wahre Weg gehe bald schon über ein Seil, das nicht in der Höhe gespannt ist, sondern knapp über dem Boden, es scheine mehr bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden. Aus der Zukunft ist längst Gegenwart geworden, man mußte sich neu einrichten. Die  einschlägige und maßgebliche Neuausrichtung ist die Wiederbelebung  der Olympischen Spiele durch Pierre de Courbertin, die nach seiner Vorstellung  mit einer Wiedererweckung der altgriechischen Kultur einhand gehen sollte. Dieser zweite Teil wurde von den sogleich epidemisch sich einstellenden Sportfunktionären ohne jegliches Aufheben abgewunken. Was blieb ist die in die Breite sich entwickelnde Artistik, mit Sloterdijks Worten die Somatisierung - ist Somatisierung identisch  mit Entgeistigung? - des Unwahrscheinlichen, des nicht für möglich Gehaltenen. Angesichts des von Kafka prognostizierten bodennahen Flachspiels konnte die bald einsetzende Dominanz des Fußballs nicht überraschen. Der Name unseres Exheiligen verschiebt sich vom italienischen San Giorgio zum polnischen Jerzy Świętowski, in Erscheinung und fußballerischem Können ähnelt er jetzt Lewandowski. Nach gewonnenem Spiel und wieder auf freiem Fuß trägt Świętowski, come rain come shine, wie schon in allen seinen früheren Inkarnationen, den wunderbaren, formvollendeten weitkrempigen Strohhut.
 

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