Freitag, 8. April 2022

Zwei Frauen im Bus

Trauerflor

Edmund stand mit einem Bein auf der unteren Stufe des überfüllten Wagens, in den er gerade eingestiegen war. Unmittelbar vor ihm, um nicht zu sagen halbwegs über ihm, stand im Zwielicht des erlöschenden Tages eine Frau. Sie trug einen dunklen Mantel und am Ärmel der Hand, mit der sie sich am oberen Griff festhielt, einen Trauerflor. Auf dem Kopf ein durchsichtiges schwarzes Tuch. Das Tuch war groß und locker gebunden und verdeckte Gesicht und Hals. Für Edmund, der wie gesagt ein wenig tiefer stand, war das Tuch auf der Höhe seiner Augen. Weil er als letzter eingestiegen war, stand er direkt vor der Tür. Das Tuch war also ganz nah vor seinem Gesicht, auf der Höhe seiner Augen. Er schaute auf das vom kleinsten Luftzug bewegte Tuch, ohne tatsächlich hinzusehen. Sollte es sich, so könnte man fragen, bei der Frau mit dem Tuch um Anna gehandelt haben, deren Mann wenige Tage zuvor gestorben war? Man weiß wenig von ihr als junger Witwe. In späteren Jahren hat sie ihre Tage beim Kaffeesieden verbracht, das sie auf die türkische Art vornahm. Auf wieviel Tassen täglich wird sie es bei diesem ihren einzigen Zeitvertreib gebracht haben? Sie war inzwischen eine schwere, langsame Frau und die türkische Art des Kaffeesiedens ist vergleichsweise zeitaufwendig. Auf Edmund können wir, was die Anna anbelangt, im weiteren Verlauf nicht setzten, er verliert sie alsbald aus dem Auge, etwas anderes fasziniert ihn. Er sieht durch das dunkle, zarte und lichtdurchlässige Tuch auf der anderen Seite des Wagens das Profil einer anderen Frau. Es geht ihm keineswegs um die Frage, ob sie häßlich ist oder schön oder Gott weiß sonstwie. Er schaut nach dem Profil mit dem Wunsch, die Frau möge ihr Gesicht von der anderen Seite her dem seinen zuwenden und sie möge, wenn sie ihn sehe, genauso denken wie er: daß für diesen einen Augenblick kein Unterschied sei zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Er lebend und sie wie tot auf der anderen Seite des Trauerflors oder, bitte sehr, umgekehrt, sie dort drüben lebendig und er tot auf dieser Seite des durchsichtigen Trauerflors, tot trotz seines ständigen Unglaubens an den Todes, tot, getroffen von einem Strahl des Vergessens im Kopf, und von einem zweiten Strahl, einer Erschütterung im Herzen für einen kurzen Augenblick der Gedanke, oder gar das Erblicken eines Einsturzes der Brücke zwischen den zwei Welten.

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