Trauerflor
Edmund stand mit einem Bein auf der unteren Stufe des überfüllten Wagens, in den er gerade eingestiegen war. Unmittelbar vor ihm, um nicht zu sagen halbwegs über ihm, stand
im Zwielicht des erlöschenden Tages eine Frau. Sie trug einen dunklen Mantel
und am Ärmel der Hand, mit der sie sich am oberen Griff festhielt, einen
Trauerflor. Auf dem Kopf ein durchsichtiges schwarzes Tuch. Das Tuch war groß
und locker gebunden und verdeckte Gesicht und Hals. Für Edmund, der wie gesagt
ein wenig tiefer stand, war das Tuch auf der Höhe seiner Augen. Weil er als
letzter eingestiegen war, stand er direkt vor der Tür. Das Tuch war also ganz
nah vor seinem Gesicht, auf der Höhe seiner Augen. Er schaute auf das vom
kleinsten Luftzug bewegte Tuch, ohne tatsächlich hinzusehen. Sollte es sich, so
könnte man fragen, bei der Frau mit dem Tuch um Anna gehandelt haben, deren Mann wenige Tage zuvor
gestorben war? Man weiß wenig von ihr als junger Witwe. In späteren Jahren hat sie ihre
Tage beim Kaffeesieden verbracht, das sie auf die türkische Art vornahm. Auf
wieviel Tassen täglich wird sie es bei diesem ihren einzigen Zeitvertreib
gebracht haben? Sie war inzwischen eine schwere, langsame Frau und die türkische Art des Kaffeesiedens ist
vergleichsweise zeitaufwendig. Auf Edmund können wir, was die Anna
anbelangt, im weiteren Verlauf nicht setzten, er verliert sie alsbald aus dem Auge,
etwas anderes fasziniert ihn. Er sieht durch das dunkle, zarte und lichtdurchlässige
Tuch auf der anderen Seite des Wagens das Profil einer anderen Frau. Es geht
ihm keineswegs um die Frage, ob sie häßlich ist oder schön oder Gott weiß sonstwie.
Er schaut nach dem Profil mit dem Wunsch, die Frau möge ihr Gesicht von der
anderen Seite her dem seinen zuwenden und sie möge, wenn sie ihn sehe, genauso
denken wie er: daß für diesen einen Augenblick kein Unterschied sei zwischen
der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Er lebend und sie wie tot auf der
anderen Seite des Trauerflors oder, bitte sehr, umgekehrt, sie dort drüben
lebendig und er tot auf dieser Seite des durchsichtigen Trauerflors, tot trotz seines ständigen Unglaubens an den Todes, tot, getroffen von einem Strahl des
Vergessens im Kopf, und von einem zweiten Strahl, einer Erschütterung im Herzen
für einen kurzen Augenblick der Gedanke, oder gar das Erblicken eines Einsturzes
der Brücke zwischen den zwei Welten.
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