Gestern und heute
Einerseits illustriert der Dichter seine Werke mit zahlreichen Photos, andererseits hat er auf seinen Reisen, wie es scheint, keinen Photoapparat dabei. Es ist völlig verständlich, wenn jemand angesichts der allgemein überbordenden Photographierwut Abstand nimmt vom Lichtbildgerät, immer wieder aber kommt es zu Situationen, in denen die Kamera dann doch hilfreich wäre. Im Bus zum Gardasee steigen kurz vor der Abfahrt zwei Zwillingsbrüder im Alter von etwa fünfzehn Jahren ein, die auf das unheimlichste Kafka im gleichen Alter gleichen. Der Bus fährt los, und der Dichter versucht den sizilianischen Eltern mit den ihm verfügbaren italienischen Sprachbrocken zu vermitteln, wie wichtig ihm aus literarischen Gründen ein Photo ihrer Kinder sei. Dem Gesichtsausdruck der Eltern ist aber zu entnehmen, daß es sich nach ihrem Verständnis bei ihm wohl kaum um einen Philologen und Kafkabewunderer handelt, sondern eher schon um einen zu seinem sogenannten Vergnügen in Italien herumreisenden Päderasten. Verstört verläßt der Dichter ohne Photo noch vor Erreichen des Ziels den Bus. Mit eigener Kamera und so tuend, als wolle er ganz allgemein das Innere des Busses mit der Kamera erfassen, hätte er sein Anliegen wohl ohne Schwierigkeiten abgewickelt. Und weiter im Text, diesmal in Verona: Die Eingangstür der Pizzeria, die er vor sieben Jahren fluchtartig verlassen hatte, war mit einer Spanplatte vernagelt, und auch die Läden in den oberen Stockwerken des Hauses waren sämtlich verschlossen. Ein Touristenehepaar, wie sich herausstellte aus der Erlanger Gegend, schien geeignet, die ehemalige Pizzeria für ihn zu photographieren. Ein Photo zu machen, waren sie bereit, ein zweites schon nicht mehr. Ob sie ihm das eine Photo wie versprochen zugeschickt haben, wird nicht gesagt. Mit einem eigenen Apparat hätte er endlos photographieren können.
Murau nimmt, was das Photographieren anbelangt, kein Blatt vor den Mund. Die Leute laufen die ganze Zeit mit ihrem Photoapparat um den Hals herum, fortwährend sind sie auf der Suche nach einem Motiv und photographieren alles und jenes, selbst das Unsinnigste. Fortwährend haben sie nichts im Kopf als sich selbst darzustellen und immer auf die abstoßendste Weise. Sie halten auf ihren Photos eine pervers verzerrte Menschheit fest. Das Photographieren ist eine gemeine Lust. Die photographieren begehen eines der gemeinsten Verbrechen, die begangen werden können. Die Natur wird zu einer perversen Groteske gemacht, die Menschen sind auf ihren Photographien lächerliche bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Puppen, ac yn y blaen und so fort. Aber auch Murau hat trotz allem einige Photographien in der Schublade, die er nicht missen möchte.
Was speziell die Begegnung mit den Kafkabuben anbelangt, wäre die Angelegenheit heutzutage ganz anders verlaufen. Jedweder, vom Kindergarten bis zum Hospiz, ist mittlerweile mit einem sogenannten Smartphon ausgerüstet, das neben zahllosen anderen Funktionen wenn nötig auch die Funktion der Bildaufnahme wahrnimmt. Alle im Bus zum Gardasee, auch die Kafkazwillinge, hätten jetzt ihr Smartphon in der Hand und vor Augen, da wäre es eine Leichtigkeit, ein Photo der Buben völlig unauffällig und ohne Ärger zu bewerkstelligen.
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