Donnerstag, 4. August 2022

Künstlerleben

Einebnung


Der Staub, der sich unablässig niedersenke in seinem Atelier, sei ihm so ziemlich das Liebste in der Welt, so der Maler Aurach. Da er die Farben in großen Mengen aufträgt und sie im Fortgang der Arbeit immer wieder von der Leinwand herunterkratzt, ist der Bodenbelag bedeckt von einer mehrere Zoll dicken mit Kohlestaub untermischten und bereits verkrusteten Masse. Es wundert immer wieder, wie er gegen Ende des Tages aus den wenigen der Vernichtung entgangenen Linien und Schatten ein Bildnis von großer Unmittelbarkeit zusammenbringt, das er unfehlbar an darauffolgenden Morgen wieder auslöscht. Bei dem Maler Aurach handelt es sich zweifellos um eine Sisyphosgestalt, bekanntlich hat sich inzwischen herausgestellt, daß Sisyphos ein glücklicher Mensch war. Im Kunstbereich  spricht man eher wohl von einer weitgehenden Einebnung von Glück und Unglück, Glück und Unglück sind nicht klar unterscheidbar. Seine Mittagsmahlzeit nimmt Aurach regelmäßig im Wadi Halfa ein, eine Einrichtung vermutlich ohne jede Lizenz in den Kellerräumen eines ansonsten unbewohnten, vom Einsturz bedrohten Hauses. Der Koch, dem Sagen nach ein nahezu achtzigjähriger, an die zwei Meter großer einstmaliger Massaihäuptling, ist bekannt für seine grauenvollen, halb englischen, halb afrikanischen Gerichte. Für die übliche Menschheit ist es ein Ort des Niedergangs, für Aurach ist es ein Ort des Glücks. Ihn, den Maler Aurach, würde der bloße Gedanke an ein sogenanntes Sternerestaurant während der Mittagspause mit Grauen erfüllen. Vielleicht, wenn er sich einmal eine längere Auszeit von der Kunst nähme, könnte es anders aussehen, aber damit ist nicht zu rechnen. Der Famulus, um von ihm zuerzählen, erhält von seinem Vorgesetzten den ganz unüblichen Auftrag, dessen Bruder, den Kunstmaler Strauch, in Weng, seinem derzeitigen Aufenthaltsort, zu beobachten und über seine Lebensführung zu berichten. Der Kunstmaler Strauch schätzt sich selbst als einen guten Maler ein, hat die Malerei aber längst aufgegeben und die noch vorhandenen Gemälde zerstört. Ursprünglich hatte er ein sogenanntes Künstlerleben geführt, Freunde haben ihn besucht, sich für eine Stunde oder länger zu ihm hingesetzt. Die Jugend kam, um gegen das Alter zu randalieren, das Alter kam, um gegen die Jugend zu randalieren. Eine ganze Besitzergreifergeneration, wie er sagt, hatte sich um ihn versammelt. Plötzlich aber verschwanden die Leute, verschwand die Kunst aus ihm. Zu seiner Kunst äußert er sich jetzt kaum noch. Er habe nur im Finsteren malen können, läßt er immerhin wissen, in völliger Finsternis, aber jetzt male er ja nicht mehr. Bevor er angefangen habe mit einem Bild, sei er tagelang durch die Stadt gelaufen, von einem Kaffeehaus ins andere, von einem Bezirk in den anderen. Ganze Nachmittage hockte er sich auf Bahnhöfe, häßliche Bahnhöfe. Schließlich fuhr er in sein Atelier hinauf, direkt in die Finsternis hinein. Das Bild entstand von selbst. Glaubte er, sein Bild sei fertig, zog er die Vorhänge zurück, das Licht blendete ihn, er konnte zunächst nichts sehen. Mehr wird zu seiner Kunstausübung nicht gesagt. Nur nach und nach sah er, daß es nichts war, gleichwohl wurden seine Bilder immer gut kritisiert. Auf dem Weg von Oberjoch nach W. hält der Dichter Rast in der Krummenbacher Kapelle. Er betrachtet die von ungeschickter Hand gemalten armseligen Kreuzwegstationen und denkt an Tiepolo, der im Herbst 1750 mit seinen Söhnen über den Brenner gezogen ist, möglicherweise auch über das Oberjoch, um schließlich die Würzburger Residenz zu erreichen. Für Calasso († 2021 ) war Tiepolo der Gipfel und das Ende der großen europäischen Malerei, nach ihm habe es vermehrt nur noch Nervositäten und schräge Wege zum Erzielen von Aufmerksamkeit gegeben. Würde der Maler Strauch dem widersprechen? Der Krummenbacher Maler der vierzehn kleinen Kreuzwegstationen hatte sich immerhin wohl ebenso gemüht wie Tiepolo mit dem großen Deckengemälde im Treppenhaus der Residenz. Beide waren Auftragsmaler, hatten Vorgaben, waren entlastet, der Kunst nicht unmittelbar ausgeliefert. Malerei ohne Licht kam für sie nicht in Frage, eine regelmäßige Zerstörung des Erreichten am Tag darauf kam aus verständlichen Gründen nicht in Betracht.

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