Einebnung
Der Staub, der sich unablässig niedersenke in seinem Atelier, sei ihm so ziemlich das Liebste in der Welt, so der Maler Aurach. Da er die Farben in großen Mengen
aufträgt und sie im Fortgang der Arbeit immer wieder von der Leinwand
herunterkratzt, ist der Bodenbelag bedeckt von einer mehrere Zoll dicken mit
Kohlestaub untermischten und bereits verkrusteten Masse. Es wundert immer
wieder, wie er gegen Ende des Tages aus den wenigen der Vernichtung entgangenen
Linien und Schatten ein Bildnis von großer Unmittelbarkeit zusammenbringt, das
er unfehlbar an darauffolgenden Morgen wieder auslöscht. Bei dem Maler Aurach
handelt es sich zweifellos um eine Sisyphosgestalt, bekanntlich hat sich
inzwischen herausgestellt, daß Sisyphos ein glücklicher Mensch war. Im
Kunstbereich spricht man eher wohl von
einer weitgehenden Einebnung von Glück und Unglück, Glück und Unglück sind
nicht klar unterscheidbar. Seine Mittagsmahlzeit nimmt Aurach regelmäßig im Wadi
Halfa ein, eine Einrichtung vermutlich ohne jede Lizenz in den Kellerräumen
eines ansonsten unbewohnten, vom Einsturz bedrohten Hauses. Der Koch, dem Sagen
nach ein nahezu achtzigjähriger, an die zwei Meter großer einstmaliger
Massaihäuptling, ist bekannt für seine grauenvollen, halb englischen, halb
afrikanischen Gerichte. Für die übliche Menschheit ist es ein Ort des Niedergangs,
für Aurach ist es ein Ort des Glücks. Ihn, den Maler Aurach, würde der bloße
Gedanke an ein sogenanntes Sternerestaurant während der Mittagspause mit Grauen
erfüllen. Vielleicht, wenn er sich einmal eine längere Auszeit von der Kunst
nähme, könnte es anders aussehen, aber damit ist nicht zu rechnen. Der Famulus, um von ihm zuerzählen,
erhält von seinem Vorgesetzten den ganz unüblichen Auftrag, dessen Bruder, den
Kunstmaler Strauch, in Weng, seinem derzeitigen Aufenthaltsort, zu
beobachten und über seine Lebensführung zu berichten. Der Kunstmaler Strauch
schätzt sich selbst als einen guten Maler ein, hat die Malerei aber längst
aufgegeben und die noch vorhandenen Gemälde zerstört. Ursprünglich hatte er ein
sogenanntes Künstlerleben geführt, Freunde haben ihn besucht, sich für eine
Stunde oder länger zu ihm hingesetzt. Die Jugend kam, um gegen das Alter zu
randalieren, das Alter kam, um gegen die Jugend zu randalieren. Eine ganze
Besitzergreifergeneration, wie er sagt, hatte sich um ihn versammelt. Plötzlich aber
verschwanden die Leute, verschwand die Kunst aus ihm. Zu seiner Kunst äußert er
sich jetzt kaum noch. Er habe nur im Finsteren malen können, läßt er immerhin
wissen, in völliger Finsternis, aber jetzt male er ja nicht mehr. Bevor er
angefangen habe mit einem Bild, sei er tagelang durch die Stadt gelaufen, von
einem Kaffeehaus ins andere, von einem Bezirk in den anderen. Ganze Nachmittage
hockte er sich auf Bahnhöfe, häßliche Bahnhöfe. Schließlich fuhr er in sein
Atelier hinauf, direkt in die Finsternis hinein. Das Bild entstand von selbst.
Glaubte er, sein Bild sei fertig, zog er die Vorhänge zurück, das Licht
blendete ihn, er konnte zunächst nichts sehen. Mehr wird zu seiner Kunstausübung nicht gesagt. Nur nach und nach sah er, daß es nichts
war, gleichwohl wurden seine Bilder immer gut kritisiert. Auf dem Weg von
Oberjoch nach W. hält der Dichter Rast in der Krummenbacher Kapelle. Er
betrachtet die von ungeschickter Hand gemalten armseligen Kreuzwegstationen und
denkt an Tiepolo, der im Herbst 1750 mit seinen Söhnen über den Brenner
gezogen ist, möglicherweise auch über das Oberjoch, um schließlich die
Würzburger Residenz zu erreichen. Für Calasso († 2021 ) war Tiepolo der
Gipfel und das Ende der großen europäischen Malerei, nach ihm habe es vermehrt
nur noch Nervositäten und schräge Wege zum Erzielen von Aufmerksamkeit gegeben.
Würde der Maler Strauch dem widersprechen? Der Krummenbacher Maler der
vierzehn kleinen Kreuzwegstationen hatte sich immerhin wohl ebenso gemüht wie
Tiepolo mit dem großen Deckengemälde im Treppenhaus der Residenz. Beide waren Auftragsmaler, hatten Vorgaben, waren entlastet, der Kunst nicht unmittelbar ausgeliefert. Malerei ohne Licht kam für sie nicht in Frage, eine regelmäßige Zerstörung des Erreichten am Tag darauf kam aus verständlichen Gründen nicht in Betracht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen