Samstag, 14. April 2012

Mathild

Die rote Zeit

Den Hauptdarstellern und den Komparsen soll die gleiche durch nichts geschmälerte Daseinsberechtigung zugesprochen werden: Wie unter dem Zauber dieser Programmatik füllt Sebald seine Bücher mit einer endlosen Anzahl von Komparsen, mit Empfangsdamen, Mitreisenden, Bewohnern der Ortschaft W., von denen jede sich mühelos in eine Hauptdarstellerin hätte verwandeln können, nicht zuletzt die Seelos Mathild, und fast hätte sie, die Mathild, es auch getan.
In der Regel einmal in der Woche ging der Großvater in die Alpenrose hinüber, um der Mathild einen Besuch abzustatten. Diese wöchentlichen Besuche bestanden darin, daß die beiden ein paar Kartenspiele miteinander machten und ausgedehnte Gespräche führten, zu denen es ihnen an Stoff offenbar nie mangelte. Sie saßen dann im Kaffeezimmer, weil die Mathild niemand, auch den Großvater nicht, zu sich hinaufließ. Ich habe mich während dieser Zeit auf einen der grünen Gartensessel an den grünen Blechtisch gesetzt und den alten Atlas angeschaut. Die Mathild hatte mir ausdrücklich untersagt, irgendeine der Türen im oberen Stock aufzumachen. Insbesondere aber hatte sie mir verboten, in den Dachboden hinaufzusteigen, wo, wie mir die Mathild mit der ihr eigenen Überzeugungskraft beigebracht hatte, der graue Jäger logierte, über den sie sonst keine näheren Angaben machte. Die Mathild hat immer irgendetwas studiert und daher im Dorf als überspannte Person gegolten. Unmittelbar vor dem ersten Krieg ist sie in das Regensburger Kloster der Englischen Fräulein eingetreten, hat das Kloster aber noch vor Kriegsende unter eigenartigen Umständen wieder verlassen und einige Monate lang, in der roten Zeit, in München sich aufgehalten, von wo sie in einem arg derangierten und fast sprachlosen Zustand nach Haus zurückgekehrt ist. Die Dorfbewohner haben sich über die Mathild dahingehend ausgelassen, daß sie aus dem Kloster und aus dem kommunistischen München völlig hinterfür heimgekommen sei, und sie hinter ihrem Rücken eine rote Betschwester geheißen. Die Mathild ihrerseits hat sich, nachdem sie einigermaßen ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, durch solche Bemerkungen in keiner Weise aus dem Konzept bringen lassen. Ganz im Gegenteil hat sie sich in ihrer Eingezogenheit offensichtlich in zunehmendem Maße wohlgefühlt, ja die Art wie sie Jahr um Jahr unter den von ihr verachteten Dorfbewohnern herumgegangen ist, unfehlbar in einem schwarzen Kleid oder einem schwarzen Mantel und stets unter der Bedeckung eines Hutes und nie, auch beim schönsten Wetter nicht, ohne Regenschirm, hat etwas durchaus Heiteres an sich gehabt. Die Mathild hat sich lange gehalten, bis gut über achtzig, vielleicht weil sie von allen den wachsten Kopf gehabt hat. Sie ist einen schönen Tod gestorben im eigenen Bett mitten in der Nacht. Genau so, wie sie sich jeden Abend hingelegt hat, hat die Frau des Lukas sie gefunden am nächsten Morgen. Nach ihrem Tod habe ich die mir in zunehmenden Maße wichtig werdende Bibliothek der Mathild gesichtet. Neben Literarischem aus dem letzten Jahrhundert und einem türkischen Lexikon samt kleinem Briefsteller gab es zahlreiche religiöse Werke spekulativen Charakters, Gebetsbücher aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert mit zum Teil drastischen Abbildungen der uns alle erwartenden Pein. Zum anderen fanden sich mit den geistigen Schriften vermischt mehrere Traktate von Bakunin, Fourier, Bebel, Eisner, Landauer sowie der biographische Roman von Lily von Braun.

Eine beeindruckende Frauengestalt, soviel läßt sich sagen, obwohl man sie so gut wie gar nicht zu Gesicht bekommt. Vorgestellt wird sie uns in der Hauptsache von Lukas Seelos, der aber wiederum über mehrere Ecken aus dem Hörensagen von ihr berichtet. Ihr Lebensbereich ist ganz unzugänglich und verschlossen, niemand darf ihre Wohnung betreten. Selysses hat sie als Kind kennengelernt, sich während der Besuche in Begleitung des Großvaters aber weniger mit ihr als mit dem Atlas und mit Überlegungen betreffend den vom grauen Jäger bewohnten Dachboden beschäftigt. Was in den langen Gesprächen mit dem Großvater behandelt wurde, ist wohl über seinen Kopf hinweggegangen. Die Kraft ihrer Persönlichkeit hat er gleichwohl verspürt, und in seiner Erinnerung ist sie verblieben als die Wächterin des Jägers, der sich dann in den Schwindel.Gefühlen in mehrfacher Gestalt, als Gracchus und als Hans Schlag, unter die Leute mischt. Nach ihrem Tode ersteht ihm ihre Gestalt noch einmal aus ihrer Bibliothek, die die Einordnung als roter Betschwester letztendlich bestätigt. Unschwer sind die Gebetsbücher der Klosterphase und die Traktate von Bakunin und anderen der roten Phase zuzurechnen, Fragen wirft aber der Umstand auf, daß die Bände so friedlich beieinander stehen und die Gebetsbücher nicht etwa zugunsten des roten Schriftgutes ausgesondert wurden. Mangels besseren Wissens müssen wir bei der Mathild eine unentschiedene Lage der geistigen Strömungen annehmen.

Damit gerät die Mathild, die bereits den Jäger Gracchus unter Verschluß gehalten hat, in die Nähe einer anderen mythischen Person, und zwar des heiligen Georg, der in einer ähnlich unentschieden Lage ist. Bei Grünewald hatten wir ihn angetroffen in der Schar der Nothelfer, aber schon bereit, aus dem mittelalterlichen Tableau herauszutreten. Bei Pisanello dann geht von ihm etwas herzbewegend Weltliches aus, die aus weißem Metall geschmiedete Rüstung versammelt auf sich alles Licht. Gleichberechtigt, was die Bildaufteilung anbelangt, steht auf der rechten Seite im dunklen Gewand und mit strengem Blick der heilige Antonius. Es wäre falsch zu sagen, Sebald habe sich wohlgefühlt an dem Punkt, an dem sich die Moderne von der Vergangenheit trennt oder auch nicht trennt und ab dem alles hätte ganz anders kommen müssen, als es dann gekommen ist, aber er sucht ihn immer wieder auf. Gemeint ist kein Punkt in der realen Zeit, denn das Leben und Wirken des heiligen Georg liegt naturgemäß dem offiziell benannten Ausgang aus der Unmündigkeit weit voraus.

Die Gestalt der Mathild steht uns klar und deutlich vor Augen, und doch lädt alles an ihr ein zum weiteren Ausmalen. Sebald hatte nach der Veröffentlichung von Austerlitz ein Buch über die rote Münchener Zeit ins Auge gefaßt. Hätte er weiter die Gewohnheit beibehalten, seine Lebensberichte, wie in den Ausgewanderten oder auch im Fall von Austerlitz, einfach nach dem Protagonisten zu betiteln, hätte das Buch Seelos geheißen, und die Titelheldin wäre niemand anderes als die Mathild gewesen, Mathild Seelos. Sie hätte sich nicht groß verändert, wäre als Protagonistin die gleiche geblieben, die sie als Komparsin war, aber ihr Geheimnis wäre um einiges reicher geworden. Wir hätten, soweit das überhaupt in Betracht kommen konnte, in das Kloster der Englischen Fräulein geschaut und wohl auch erfahren, was die Mathild während ihres Aufenthalts in München bis in die Grundfesten erschüttert hatte.

Keine Kommentare: