Samstag, 15. Januar 2022

Glaubensschwund

Schwarzgekleidet


Die Kirchentür ist offen. Drinnen wird die Messe gelesen. Er stellt sich in die letzte Reihe. Die Gemeinde besteht fast nur aus alten, schwarzgekleideten korsischen Frauen, viele von ihnen geplagt von Gicht und krumm. Er blickt hinauf zu den an das Tonnengewölbe gemalten Fresken, kann aber nicht erkennen, um was für Szenen aus der biblischen Geschichte es sich handelt. Als der Priester sich anschickt, die Kommunion auszuteilen, die für ihn immer der ungeheuerste Teil der Liturgie gewesen ist, geht er hinaus. Man muß annehmen, daß die restlichen Teile der Liturgie die Ungeheuerlichkeit der Kommunion nicht aufheben konnten, sie vielmehr, wenn vielleicht auch maßvoll, nur noch gesteigert haben.

Als Pradera am Sonntag den Bibliothekswagen aufsucht, ist der noch menschenleer, das Volk ist samt und sonders bei der Messe. Die Frage der Bibliothekarin, warum er nicht die Messe hört, beantwortet Pradera dahingehend, er würde Kirchen nur vor oder nach der Messe betreten, in der Stille des Gotteshauses würde er sich wohlfühlen, am Ritus sei er nicht interessiert. Ähnlich erinnert sich Sebalds Erzähler an die im Inneren der menschenleeren Kapellen in der Gegend von W. herrschenden vollkommende Stille. Auf der anderen Seite des Erlebens standen freilich die an den Wänden abgebildeten Grausamkeiten. 

Günter Dux sieht den gerade erst evolutionär entstandenen Menschen sogleich mit einem umfassenden Weltverständnis beauftragt, darin unterschieden vom, mit Heideggers Worten, weltarmen Tier. Seiner speziellen Aufgabe aber war der Mensch nicht gewachsen ohne die sein Erleben leitende Religion. Wo immer Menschen waren, schossen Religionen wie Pilze aus dem Boden. Wenn, wie viele meinen, die jüdisch-christliche Religion hervorsticht aus dem Meer der Religionen, so nur aufgrund ihrer literarischen Qualitäten. Die Genesis, so Dux, sei das vielleicht gelungenste Prosastück überhaupt, ihre sachliche Glaubwürdigkeit aber habe sie im Zuge des enormen Wissenszuwachses der letzten dreihundert Jahren so gut wie vollständig eingebüßt. Was brächte einen allmächtigen Gott dazu, sich allein um einen winzigen, im All kaum auffindbaren  Planeten zu kümmern und auf diesem Planeten exklusiv nur um eine einzige Säugetiergattung, den Homo sapiens?

Die schwarzgekleideten korsischen Frauen erfahren keine sonderliche Sympathie, anders die alten polnischen Frauen, Babcia Potęga und Babcia Taborska in Cała Jaskrawość, Babcia Oleńka in Siekierezada und die eigene Mutter in Pogodzić sie ze światem (Sich abfinden mit der Welt), Stachuras Sterbetagebuch. Die Ummantelung durch den Katholizismus ist den Frauen so selbstverständlich wie die eigene Haut und niemand versucht sie zu verletzen. Jezus najsłodszy, allsüßester Jesus, das ist das Leitmotiv, Momente des Ungeheuerlichen und des Grausamen werden von den alten Damen nicht bemerkt.   

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