Montag, 10. Januar 2022

Sprachkunde

Großmütter


Bisweilen hielt der Bus und ließ eines der der alten Weiber einsteigen, die in gewissen Abständen unter ihren schwarzen Regendächern an der Straße standen. Es kam auf diese Weise bald eine ganze Anzahl solcher Tiroler Weiber zusammen. Sie unterhielten sich in ihrem hinten im Hals wie eine Vogelsprache artikulierten Dialekt. – Vogelsprache, Hundebellen, man mag dem Dichter zugute halten, daß er durchfroren und übernächtigt war und daß ihm die Bedienerin in der Innsbrucker Bahnhofswirtschaft zudem auf die bösartigste Weise, die man sich denken kann, das Maul angehängt hatte, sein Rückfall in ein archaisches Verhalten bleibt nicht ohne Tadel. Es geht nicht an, den Sprechern unvertrauter Sprachen Tierlaute und bloßes Grunzen unterstellt. Die alten Griechen hatten parallel zu den Indern die Linguistik und mit ihr das Alphabet erfunden haben, für uns eine Selbstverständlichkeit, ursprünglich aber eine Klippe schwerer zu erklimmen als die Eigernordwand. Alle frühen Verschriftungen der Sprache hatten einen piktographischen Charakter, die Phonetik als Ausgangspunkt kam zunächst niemandem in den Sinn. Die fortschrittlichen Griechen waren aber leider ausschließlich an ihrer eigenen Sprache interessiert und nicht etwa an einer umfassenden oder gar vergleichenden Sprachwissenschaft, nichtgriechische Sprachen galten als bloßes Brummeln der Barbaren. Die Vorstellung, man könne auch auf andere Weise als einzig in der eigenen Sprache vernünftig reden, wollte nicht einleuchten. Selbst Herodot, als der designierte griechische Außenminister, hielt an dieser Auffassung fest. Schauen wir in andere Regionen. Die Eigenbezeichnungen nordamerikanischer Indianerstämme hatten durchweg die Bedeutung Menschen, mit der Maßgabe, daß es sich bei den Angehörigen der mehreren hundert anderen Stämmen nicht um Menschen handelte. Die Polen sprechen nach wie vor von der Republika Federalna Niemiec, der Bundesrepublik der Barbaren, wenn sie die Bundesrepublik Deutschland meinen, und andererseits stufen die Deutschen insgeheim das Polnische als bloßes Gezische ein: schtschtschtsch. Stachura muß man dafür danken, daß er als Zeichen der Völkerverständigung immer wieder deutsche Sprachbrocken in seine Prosa eingebaut hat, z.B. Blitzkrieg.

Babcia Potęgowa spricht Dialekt, wer sich im Polnischen ein wenig auskennt, weiß aber, das sind keine Tierlaute. Ihr erster Gesprächsbeitrag ist in der Regel ein Hy?, das einem deutschen Hä? entspricht, dann aber geht es ohne weitere Schwierigkeiten zügig voran. Bei der Unterhaltung mit der noch um einiges älteren Babcia Taborska und anderen Dorfbewohnern, die in der gleichen Weise sprechen wie sie, treten naturgemäß Verständigungsschwierigkeiten gar nicht erst auf. Die Großstädter Edmund Szerucki und Wincenty Różański, die bei ihr Unterkunft genommen haben, wachsen der Babcia gleichwohl immer mehr ans Herz. Die Potęgowa liebt uns, und wir lieben sie, heißt es bald einträchtig. Babcia versucht die beiden zu überreden, auch nach Abschluß ihrer Arbeit im Dorf zu bleiben und entwirft ein verlockendes Zukunftsbild, auf das die beiden sich aber nicht einlassen können. Nun, dann geht, geht schon, heißt es daraufhin, no to idźta, chlopoki. Idźta z Bogiem. Idźta juz, idźta jeźli mota iść. I uwaźejta na siebie, nun geht schon, Leute, geht mit Gott. geht schon, geht schon, wenn ihr gehen müßt, und achtet auf euch.

Hätte der Dichter aus dem der Tiroler Gegend benachbarten Allgäu näher hingeschaut, die Tirolerinnen nicht en bloc, sondern als Individuen betrachtet, wäre er vielleicht zu einem anderen Urteil gelangt. Vielleicht hätte er unter der alten Weibern, wie er sie nennt, parallel zur polnischen Babcia Potęgowa ein Tiroler Großmütterchen Potenzia angetroffen, vielleicht hätte er seine Reise unterbrochen und wäre für ein paar Tage dort geblieben.

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